The counter-revolution is really televised …
Seit Mitte November stehen am Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo wieder Zelte. Die Demonstrationen, die nach dem Rücktritt von Präsident Mubarak im Februar 2011 kurzzeitig abgeklungen war, gewannen im Vorfeld der Parlamentswahlen wieder an Dynamik.
Seit Mitte November stehen am Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo wieder Zelte. Die Demonstrationen, die nach dem Rücktritt von Präsident Mubarak im Februar 2011 kurzzeitig abgeklungen war, gewannen im Vorfeld der Parlamentswahlen wieder an Dynamik. Der in Kairo und Paris lebende Aalam Wassef (41) hat die Ereignisse in Ägypten aus nächster Nähe beobachtet und auf seinem Blog kommentiert. Oliver Lerone Schultz traf den Medienkünstler und Betreiber der Plattform Peerevaluation.org Mitte November 2011 im Post-Media Lab in Lüneburg zum Interview.
Oliver Lerone Schultz: Wie kam es zu deinem aktivistischen Engagement, und wie begann Medienaktivismus in Ägypten?
Aalam Wassef: Damals, 2006, habe ich mich entschieden, mich in der quasi nicht-existierenden ägyptischen politischen Szene zu engagieren, für die es eigentlich keinen Raum gab. Es war nur in bestimmten, kleinsten Räumen, in denen sich „Aktivisten“ bewegten. Man musste sich an den Rändern sammeln. Wenn damals zu Aktionen aufgerufen wurde, war die Beteiligung sehr gering – immer dieselben 50 bis 60 Leute, die Stände oder Sit-Ins machten, immer umzingelt von 500 Polizisten. Es gab also keinen Platz, nicht auf der offiziellen politischen Ebene, auch nicht in der Stadt oder auf den Straßen. Der einzige Raum, den man finden konnte, war das Internet. Und so wurden Blogs populär. Eine ganze neue Generation von Ägyptern bewegte sich schlagartig in diesen Raum. Das wuchs langsam und wurde zu einer eigenen Realität, groß genug, um Entscheidungen zu treffen, Themen zu diskutieren, die Treffen zu vergrößern, Informationen zu verteilen. Es gab eine exzellente Initiative damals, ein Blog-Aggregator [Manalaa]. Dieser Aggregator wurde von Alaa Abd El-Fatah gemacht, der jetzt im Gefängnis sitzt, weil auch neun Monate nach der Revolution die Armee immer noch gegen freie Meinungsäußerung vorgeht. Er und seine Frau Manal Hassan haben diesen Aggregator geschaffen, der uns das Wachsen der „Blogosphäre“ sehen ließ. Es ermöglichte, Informationen zu verbinden: alle Arten von Initiativen, Geschriebenes, selbst Dichtung oder Aufrufe zu Aktivitäten wie Flashmobs, Daten- und Banneraustausch etc.
Es war offen, unzensiert, es war riskant. Einige Blogger wurden über IP-Adressen getraced. Das Internet hatte zu dieser Zeit [um 2005] eine sehr bescheidene Reichweite. Ich glaube, gerade 10 Prozent der Bevölkerung griffen zu der Zeit auf das Internet zu. Heute sind es 40-60 Prozent, die Zahlen sind nicht ganz klar.
Wie entwickelte sich die Nutzung der Medien im Zusammenhang mit den anderen sozialen und politischen Bewegungen?
Es hängt alles davon ab, von wann wir reden. Sagen wir, bis 2007/2008 sprechen wir eigentlich über ein Internet, in dem Twitter und Facebook keine entscheidende Rolle spielen. Danach wird Twitter fast so etwas wie ein Telefon. Das ist Massenkommunikation auf eine besondere Art: die Adresse von irgendwas weitergeben, Bilder teilen, Dinge beschreiben usw. Es schlägt sogar das Fernsehen: Man hat bereits die Footage selbst, die Information, die Beschreibung und alles. Es ist also wie ein Vorabdruck (preprint) in der Presse, es erfasst das Ereignis, während es sich entwickelt. Es war also diese Art von Kurve: laaangsam; und dann: woosh! Es war wirklich 2010, 2011, dass es durch die Decke ging. Einer der Momente, in denen es größer wurde, war der Tod von Kahled Saheed, ein junger Mann, der von Polizisten in Alexandria zu Tode geprügelt wurde. Das schockierte alle, es kam in die Presse. Es wurde von den jungen Aktivisten aufgegriffen, die das als Symbol benutzten; und sie fingen an, auf innovative Weise öffentlichen Raum damit zu besetzen, auf Arten und Weisen, die nicht direkt die Gesetze des Ausnahmezustandes verletzten. Es gab also Flashmobs, die sich in Alexandria entlang des Strandes trafen. Alle trugen Schwarz, standen drei Meter voneinander entfernt und schauten in Richtung Horizont. Das war ein starkes Bild.
Alles funktionierte also getrennt und kombiniert: Z. B. die Bewegungen der Arbeiter: Sie wurden nicht durch die Blogosphäre ausgelöst, wurden aber von ihr verfolgt und vergrößert. Eine der wichtigsten Jugendbewegungen, die sich „Bewegung des 6. April“ nennt, hat ihren Namen von einem Arbeiterstreik. Denn was in Malhalla 2007/2008 passierte, war sehr vielversprechend in Sachen Konfrontation mit den Autoritäten: Plakate von Mubarak herunterreißen, Steine auf Polizeiwagen schmeißen, Polizeiautos verbrennen … die ganze Stadt besetzen, ich meine „Occupy Malhalla!“. Das war sicher ein großes Symbol.
Wir hatten auch Sozialisten, Bewegungen und auch Blogger, die die Frage der Arbeiter und ihrer Situation stark im Blick hatten. Ich denke insbesondere an Hossam el-Hamalawy, der in den letzten sieben bis acht Jahren auf beeindruckende Weise die Fabriken in allen Regionen beobachtet, Streik für Streik dokumentiert und faktisch ein Archiv der Arbeiterbewegungen in Ägypten aufgebaut hat. Das ist extrem konkret – das ist nicht Facebook oder „neue Medien“. Die Übertragung der tunesischen Ereignisse war, glaube ich, sehr wichtig. Insbesondere für die Aktivisten … Es war es das erste Mal, zumindest in diesem Teil der Welt, dass alle Fernsehstationen den Fall und den aktiven Sturz eines arabischen Diktators zeigten.
Und der Tahrir-Platz wurde dann schnell zur entscheidenden Größe? Alles fokussierte sich da, wenn man den europäischen Berichten glaubt …
Schon wegen des Namens – „Platz der Befreiung“ – war es ein Sammelpunkt. Es war der Ort, an dem alle Demonstrationen und Aufzüge zusammenliefen. Dann wurde es ein Symbol, weil es die Hochburg des Aufstandes war – und deswegen war es der Platz, den es zu verteidigen galt. Dabei ist es wichtig, sich zu erinnern, dass wir zu Beginn des Aufstandes in Ägypten für sechs ganze Tage kein Internet und kein Telefon hatten; und kein SMS. Trotzdem wurde die Bewegung nur größer! Vielleicht, in gewisser Weise, gerade deswegen (lacht). Weil Leute mussten einfach ihr Zuhause verlassen, oder sie konnten sich nicht anrufen. Also mussten sie sich treffen. Ich bin sicher, es spielte dabei eine Rolle, die Bewegung zu vergrößern, statt die Bewegung zu verunsichern, wie es die Regierung vorhatte. Das erinnert uns daran, dass alles durchaus sehr gut ohne Handys, Internet und Twitter läuft. Du hast nicht verstanden, wie es funktioniert, aber es verteilte sich. Es ist interessant, das zu sehen, wie Realität funktioniert, wie Virtualität funktioniert, und irgendwie fragst du dich, was schneller ist (lacht).
Wie ging der Oberste Rat der Streitkräfte (SCAF) mit all dem um?
Sie streuten ein Narrativ. So in der Art: Etwas ist passiert, etwas ganz Kleines, und – schau! – drei Tage später – Gott sei Dank! – reinigen wir schon wieder den Platz mit ihren Besen. Und sie veröffentlichten Fotos vom Platz, auf denen er leer war – während er gerade mit Hunderttausenden von Menschen besetzt war. Die Lügen waren riesig. Sie kontrollieren ja das Radio, das Fernsehen und drei oder vier riesige Zeitungen. Sie können also dem ganzen Rest sehr leicht Zweifel einstreuen; oder sogar sagen: „Oh ja, diese Leute werden vom Mossad kontrolliert, von den USA, vom Iran …“ Alles nur, um Zweifel darüber zu säen, was sich abspielt. Und es hat gewirkt. Bis jetzt wirkt es.
Nach der Revolution hatte jeder große Hoffnungen, die eine nach der anderen zu Boden fielen. Und heute realisieren wir alle gemeinsam: Es gab keinen Fortschritt, es gab sogar eine Menge von Rückschritten. Das betrifft die freie Meinungsäußerung, die Lebensqualität usw. Und: keine Gerechtigkeit. Es gibt 12.000 Menschen, die militärgerichtlich verurteilt wurden; Zivilisten; meistens fast gänzlich ohne Verfahren. Wir befinden uns – wieder – in einer Lage, in der (international) jeder sagt: „Wie wunderbar, Ägypten hat eine Revolution gemacht, wie schön.“ Gleichzeitig arbeitet man mit dem SCAF zusammen und die Regierungen ignorieren – erneut! –, dass sie die Hände von Kriminellen schütteln.
Du meinst also, es war ein Fehler, die Medieninfrastruktur nicht zu übernehmen?!
Für mich ist das ein kapitaler Fehler gewesen.
Gab es darüber ein Bewusstsein in der Bewegung?
Ich glaube, nein – sonst hätte es so etwas wie einen Plan gegeben. Die Sache ist die: Es gab Panzer überall. Die „bewachten“, ohne wirklich etwas zu bewachen, eher passiv. Aber rund um Maspiro – das ist das zentrale Fernsehgebäude – war die Einstellung eine ganz andere. Was also passierte, war, dass wir mit dem Aufstand nicht die Medien befreiten. Es gibt ein zentrales Gebäude – das nationale Fernseh- und Radiogebäude –, und im Rückblick hätten wir es besetzen und sicherstellen sollen, dass es nicht unter die Kontrolle des Militärs gerät. Die bewachen es wie Fort Knox. Denn sie können nur auf der Grundlage von Lügen, Verzerrungen, Falsch- und Fehlinformationen u. Ä. operieren. Was wir gerade tun müssen, ist, immer zu antworten. Die Botschaften, die wir aussenden, werden überflutet von ihren „Antworten“: Nennen wir es „die Konterrevolution“. Siehst du, die Konterrevolution wird wirklich gesendet („The counter-revolution is really televised“) … Und sie erzielt schreckliche Ergebnisse, weil sie so effizient ist. Sie spaltete die Bevölkerung. Ich meine, heute, neun Monate nach der Revolution, würde jeder, den du auf der Straße darauf ansprichst, sagen: „Ach was soll das, mit dieser Revolution? Es war vorher besser“; oder: „Schau dich um, nichts funktioniert mehr“.
Wie verhielt sich eure Bewegung und Erfahrung zu dem, was sonst in der Welt vorging?
Ich erinnere mich, dass wir – während der 18 Tage des Aufstandes bis zum Fall Mubaraks – uns da sehr bewusst waren, dass es nicht nur um uns hier ging. Wir empfanden diese Universalität. Das hatte nichts zu tun mit unserer Herkunft, unserer Farbe, unserer Religion. Uns wurde die Erfahrung geschenkt, was Menschlichkeit in ihrer ganzen Qualität bedeuten kann. Das ist tatsächlich ein sehr starkes, ein überwältigendes Gefühl. Wir hatten also alle das Gefühl, dass das um die Welt reisen könnte, vielleicht in all die Länder, in denen es die Aufspaltung zwischen Regierten und Regierenden gibt. Natürlich mit sehr verschiedenen Gründen hier und da – aber dass alle in dieselbe Richtung gehen könnten, mit denselben Aspirationen.
Es gibt die People-to-people-Unterstützung, also da, wo wir über Bürger hier und Bürger da reden; und das drückt sich dann in Bewegungen aus. Die Occupy-Bewegung ist gegenwärtig in Kontakt mit Leuten in Ägypten, auch mit Leuten in Spanien, in Griechenland usw. Wir teilen Wissen, Inhalte, wir haben Solidaritätstage. Wir können also den Impact eines Themas wirklich ausweiten und internationale Aufmerksamkeiten erhöhen, nur indem wir gemeinsam sagen: „Ok, morgen werden wir das und das tun.“
Während der Revolution selbst gab es dennoch etwas sehr Eigentümliches. Es war keine Form der Zurückweisung, aber es war einfach so, dass wir wirklich auf niemand anders zählten (lächelt). Wir wussten, dieses Mal kommt es wirklich auf uns an.
Was für mich interessant zu sehen ist, ist, dass die Occupy-Bewegung, die chronologisch später kommt, sich „Occupy … !“ nennt. Das ist für sich genommen ein Plan. „Occupy!“ ist bereits eine Aktionsvokabel. Wenn also Leute fragen: „Was sind ihre Forderungen?“ – nun, ihre Forderung ist, zu okkupieren! Das ist die erste Forderung, und das wird erreicht. Nun, was besetzen sie? Sie besetzen öffentlichen Raum, die öffentliche Sphäre und einen Ort, um sich zu treffen, zu reden. Es ist so, dass es nun im 21. Jahrhundert anscheinend die Notwendigkeit gibt, dass wir freien Raum zurückgewinnen – und ich meine nicht ein Café oder so etwas; sondern freien Raum, offenen Raum. Etwas Offenes, das keine politische Färbung hat, keine kommerzielle Färbung, nichts dergleichen; sondern irgendetwas, wo ich einfach interagieren und mich austauschen kann. Ich bin also sehr dagegen, „Occupy!“ als eine Horde von Hippies zu beschreiben, die Musik mit Gitarren machen, zusammen singen und „nur“ zusammen sitzen … Das ist in der Tat großartig, denke ich (lacht).