Die tatsächlichen Verhältnisse sind widersprüchlicher …
Nicht erst seitdem Anfang Mai auch der zweite von Oppositionsparteien boykottierte Anlauf zur bereits sicher geglaubten Wahl Abdullah Güls von der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) zum Staatspräsidenten durch ein umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichts für ungültig erklärt wurde, überstürzen sich in der Türkei die Ereignisse.
Nicht erst seitdem Anfang Mai auch der zweite von Oppositionsparteien boykottierte Anlauf zur bereits sicher geglaubten Wahl Abdullah Güls von der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) zum Staatspräsidenten durch ein umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichts für ungültig erklärt wurde, überstürzen sich in der Türkei die Ereignisse. Bereits seit Mitte April kursieren schließlich auch in deutschsprachigen Medien die Bilder von Großkundgebungen mit bis zu einer Million TeilnehmerInnen in Ankara, Istanbul, Izmir und anderen türkischen Städten – ebenso wie Gerüchte von einem bevorstehenden Putsch des die kemalistische Staatsdoktrin des Laizismus verteidigenden Militärs gegen die gemäßigt-islamistische Regierung der AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, die sich anschickte, mit dem Staatpräsidentenamt eine der letzten Bastionen des Kemalismus zu erobern. Rasch waren Erklärungsmuster zur Hand, die den Konflikt mittels einfacher Dichotomien wie „LaizistInnen vs. islamische FundamentalistInnen“, „NationalistInnen vs. EU-BefürworterInnen“, „DemokratInnen vs. PutschistInnen“ usw. zu erfassen versuchten. Doch wo verlaufen die Fronten tatsächlich, wer geht da seit Wochen auf die Straße und wie positioniert sich die „zivilgesellschaftliche Linke“ im Vorfeld der für Ende Juli angesetzten Neuwahlen zu dem Konflikt? Der Politikwissenschafter Ilker Ataç (Interview) und der Soziologe Bülent Küçük (Kommentar) geben Auskunft.
Kulturrisse: Von wem ging der Aufruf zu den Demonstrationen aus, wer beteiligte sich daran und was waren die primären Forderungen?
Ilker Ataç: Der gemeinsame Nenner dieser für die Türkei neuen Form des Protest war wohl die Ablehnung der AKP-Regierung, und zwar mit der Begründung, dass diese bestimmte gesellschaftliche Werte unterminieren bzw. dass sie die kemalistischen Grundlagen der türkischen Gesellschaft aushöhlen werde. Zu den Demonstrationen aufgerufen haben in erster Linie zivilgesellschaftliche Organisationen, die dem kemalistischen Establishment nahe stehen, aber auch linke und feministische Gruppen. Das Militär hingegen spielte zumindest offiziell bei der Organisierung der Demonstrationen keine Rolle, wobei ich die Frage, ob das Militär das alles inszeniert hat und „die Volksmassen“ dem einfach gefolgt sind, auch für irrelevant erachte. Und zwar insofern, als ich es bei der Beurteilung der Intervention des Militärs interessanter finde, zu fragen, welche gesellschaftlichen Kräfte bei der Blockbildung im Kontext der aktuellen Auseinandersetzungen in der Türkei sich um den militärischen gruppierten und welche Interessen sie dabei verfolgen. Zentrale Themen auf den Demonstrationen waren neben der Kritik am politischen Islam sowie an der AKP als dessen primärer Träger auch die Unabhängigkeit des Landes, was sich u.a. im Skandieren nationalistischer und antiimperialistischer Parolen äußerte.
Kulturrisse: Welche Rolle spielt der von dir angesprochene Nationalismus im Anti-AKP-Block und in der türkischen Linken?
Ilker Ataç: Ich würde sagen, der Nationalismus als Ideologie ist innerhalb dieses Blocks eine Art strategisches Argument gegen die AKP, der – nicht zuletzt aufgrund ihrer Bemühungen im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt der Türkei – ein Verrat der türkischen Nation vorgeworfen wird. Aus einer historischen Perspektive ist das natürlich als ein Paradox zu betrachten, zumal es in der Vergangenheit stets die kemalistischen Eliten waren, die in der Türkei ein Modernisierungs- und Verwestlichungprojekt verfolgt – und daher auch für den EU-Beitritt gekämpft – haben, während die islamistischen Kräfte diejenigen waren, die gegen dieses Projekt opponierten.
Letztendlich würde ich allerdings sagen, dass – wenn man die Entwicklung der islamistischen Ideologie in der Türkei betrachtet – diese nie getrennt vom Nationalismus war. D.h. auch das Projekt des politischen Islam konnte sich – trotz seiner Kritik am Kemalismus und damit auch an dessen nationalistischer Orientierung – nie wirklich vom Nationalismus abschotten. Das kann man auch bis zur aktuellen Positionierung der AKP sehr klar verfolgen. Trotzdem läuft in den Auseinandersetzungen zwischen KemalistInnen und IslamistInnen auf einer oberflächlichen Ebene alles über den Nationalismusdiskurs. Und dann heißt es von Seiten des kemalistischen Blocks, der den Anspruch verfolgt, die „wahren Interessen“ der Türkei zu vertreten – Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der modernen Türkei und „Namensgeber“ dieses Blocks, ist da nach wie vor ein wichtiger symbolischer Bezugspunkt –, es gelte, die Unabhängigkeit der Nation gegen die AKP zu verteidigen.
Und was die Linke anbelangt, hat auch hier eine Auseinandersetzung mit dem Nationalismus erst relativ spät, nämlich in den 1970er Jahre angefangen – und erst in den letzten paar Jahren hat man tatsächlich damit begonnen, das nationalistische Erbe des Kemalismus breiter zu debattieren. Das wird beispielsweise bei jenen Intellektuellen deutlich, die in letzter Zeit verstärkt die Frage von Minderheiten wie den ArmenierInnen oder den KurdInnen ernst nehmen und in der Öffentlichkeit thematisieren. Das heißt, es gibt in der türkischen Gesellschaft sehr wohl Kräfte, die sich mit dem vorherrschenden Nationalismus auseinandersetzen – und zwar in Bezug sowohl auf die Geschichte als auch auf die Gegenwart. Aber wenn man die aktuellen Machtkämpfe zwischen dem kemalistischen und dem – sagen wir – „islamistischen“ Block betrachtet, wirkt es natürlich so, als würde der Nationalismus nur zu einem Lager gehören, was – wie gesagt – falsch ist.
Kulturrisse: Wie lässt sich das erwähnte Paradox erklären, dass dieser „islamistische Block“ in den aktuellen Auseinandersetzungen einen Pro-EU-Kurs fährt, während die KemalistInnen dagegen nationalistische Argumente stark machen?
Ilker Ataç: Vorweg muss klar gestellt werden, dass – auch wenn sich der Widerstreit zwischen KemalistInnen und IslamistInnen natürlich über die jüngere türkische Geschichte hinweg verfolgen lässt – die tatsächlichen Verhältnisse widersprüchlicher sind. Ich verweise hier nur auf das Projekt einer „Islamisierung der Gesellschaft“, das nach dem Militärputsch in den 1980er Jahren in der Türkei gerade von der Armee initiiert und vorangetrieben wurde. Damals freilich noch, um den Einfluss der Linken zurückzudrängen. Jenseits dieser Relativierung lässt sich jedoch der Pro-EU-Kurs der AKP in erster Linie darüber erklären, dass sie tatsächlich versucht, das kemalistische Establishment in der Türkei zu schwächen – und der EU-Beitritt erscheint ihr dafür als ein geeignetes Mittel. Zugleich geht es der AKP – die sich ja erst 2001 offiziell gegründet, wenn auch bereits in den 1990er Jahren als eine Protestpartei formiert hat – aber auch darum, eine neue Basis für ihr hegemoniales Projekt zu schaffen. Und dabei kann man natürlich sehen, dass sowohl die ökonomische wie auch die politische Internationalisierung ein Baustein war, um genau eine solche Basis zu entwickeln. Denn erst darüber war es der AKP beispielsweise möglich, Bündnisse mit den dominanten Kapitalfraktionen – die ursprünglich nichts mit dem AKP-Projekt zu tun hatten, ganz klar jedoch einen Pro-EU-Kurs verfolgten – zu schließen, was freilich nur im Kontext der Finanzkrise 2001 sowie der Einbettung der Türkei in die internationalen Organisationen erklärt werden kann. Die AKP hat hier eine Lücke in der türkischen Parteienlandschaft erkannt und ihr Projekt auf eben diesen Maßnahmen errichtet.
Dass auf der anderen Seite der kemalistische Block in dieser Auseinandersetzung als nationalistische, EU-kritische Kraft agiert, hat meines Erachtens einfach mit der Blindheit der Politik zu tun. Das zeigt sich alleine schon daran, dass – vielleicht zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der Türkei – das Militär und die dominanten Fraktionen des Kapitals sich in widerstreitenden Positionen befinden, zumal letztere mit der nationalistischen Abschottungspolitik der kemalistischen Parteien freilich wenig glücklich sind.
Kulturrisse: Wie steht es um die Positionierung außerparlamentarischer, zivilgesellschaftlicher Kräfte der Linken in der Türkei zu den aktuellen Konflikten – auch und gerade im Vorfeld der Wahlen?
Ilker Ataç: Vorweg muss gesagt werden, dass es in der Türkei derzeit alleine fünf bis zehn linke bzw. linksradikale Parteien gibt, was damit zu tun hat, dass die gesetzliche Grundlage für die Bildung politischer Vereinigungen äußerst restriktiv ist. Deshalb artikulieren sich viele politische Gruppen als Parteien. Die meisten dieser Parteien haben eine dezidiert anti-nationalistische Tendenz und positionieren sich klar in Opposition zu den neoliberalen Umbauten der letzten Jahre. Letzteres ist auch ein Thema, das in der ganzen „Islamismus vs. Laizismus“-Debatte gänzlich ausgespart bleibt – dass nämlich bspw. die Reallöhne in der Türkei seit der letzten Finanzkrise um 20% gefallen sind.
Daneben gibt es natürlich zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen wie etwa linke Intellektuelle, die versuchen, jenseits der erwähnten Dichotomie ihre politische Arbeit fortzuführen. Diese bemühen sich, vermittels ihrer Kritik am Nationalismus auf die konkreten Probleme in der Türkei Bezug zu nehmen. Ein Beispiel für eine solche Positionierung wären Orhan Pamuk oder Elif Şafak, die aufgrund von Verstößen gegen den berüchtigten Paragraph 301 – also wegen „Beleidigung des Türkentums“ – vor Gericht gestellt wurden. Beide AutorInnen hatten sich in ihren Romanen wiederholt mit dem nationalistischen Erbe des Kemalismus kritisch auseinander gesetzt und mit Hilfe literarischer Mittel auf die kurdische und armenische Frage Bezug genommen. Ich denke, dass es nicht zuletzt der Verdienst kritischer KünstlerInnen und WissenschafterInnen ist, dass diese Themen heute stärker als noch vor wenigen Jahren auf der öffentlichen Agenda stehen. Wobei die Verbindungen dieser linken Intellektuellen zu – wie auch ihr Einfluss auf – die politischen Parteien in der Türkei sehr beschränkt sind.
Kommentar
Hysterie des kemalistischen Nationalismus.
Wie können die gegenwärtigen diskursiv-militaristischen Interventionen und die hysterischen Massenmobilisierungen in den türkischen Großstädten erklärt werden, nachdem die beiden zentralen Oppositionen des zentralistischen kemalistischen Dispositivs, die islamistische und die kurdische Bewegung, sich gebändigt haben, bzw. gebändigt wurden? Die Antwort auf diese Frage ist meines Erachtens in folgenden drei diskursiven Ereignissen zu suchen.
Erstens: Das Militär übte 1997 öffentlichen Druck auf die Koalition N. Erbakan/T. Çiller aus, um diese zu stürzen. Nach diesem so genannten „28.-Februar-Prozess“ kam es zu einer Spaltung innerhalb der islamistischen Bewegung. Es formierte sich ein liberaler konservativer Diskurs aus der zweiten Generation von muslimischen Eliten, der sich von der bis dato konfrontativen Politik der Refah-Partei distanzierte und sich für einen moderaten EU-Beitrittskurs engagiert.
Zweitens: In Folge der Festnahme von A. Öcalan (PKK) im Jahre 1999 ist die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) bestrebt, sich von einer „machtorientierten“ politischen Bewegung zu einer „reformorientierten“ kulturellen Bewegung zu transformieren. Die PKK versucht ihre Legitimität in den modernen türkischen Gründungsmythen zu finden. Dabei bleibt sie im Rahmen des kemalistischen Diskurses, anders als vorher, als dieser gegen sie gerichtet war. Dieser diskursive Transformationsprozess führte dazu, dass europäische politische Kriterien, die für kulturelle Rechte von Minderheiten plädieren, mit den Forderungen der kurdischen Teilbewegung überwiegend übereinstimmen.
Somit haben sich die islamistischen und kurdischen Diskurse – beide sichtbare politische Symptome des staatlichen Dispositivs – an die Ordnung des Diskurses angepasst.
Drittens: In der Türkei ist seit dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen im Dezember 2004 eine Re-Formierung des kemalistischen Nationalismus festzustellen. Im dialogischen Verhältnis zur islamistischen und kurdischen Bewegung wurde der kemalistische Nationalismus, der bis in die 1990er Jahre vorherrschend als Staatsideologie fungierte, von den etablierten politischen Parteien und den Massenmedien popularisiert (vgl. Navaro-Yashin 2002). Die davor unter institutionellem Zwang stattfindenden Aufmärsche und mit militärischer Präsenz von Panzern und Kampfflugzeugen inszenierten Feiertage wurden zu Massendemonstrationen, wobei die zivilen BürgerInnen, die die Botschaft der Bedrohung der Republik verstanden haben, mit Flaggen und Atatürkbildern die Einheit und den Laizismus des Staates verteidigten. E. Ozyürek (2006) spricht diesbezüglich von einer kemalistischen Nostalgie, die sich im öffentlichen Raum sichtbar macht. Es findet eine Art von politischen Restaurierungs- und kommerziellen Vermarktungsversuchen Atatürks statt, als eine Botschaft und eine „Marke“ zugleich.
Die kemalistischen Eliten möchten seit der Gründung der Republik ein Teil der westlichen „zivilisierten Welt“ sein, doch gegenwärtig sind sie selbst zur Hürde ihrer imaginären Zielsetzung, und ironischerweise die ehemaligen „mittelalterlichen“ Mentalitäten umgekehrt zu Befürwortern der europäischen Mitgliedschaft geworden. Die symbolische Intervention des Militärs und die hysterische massenmediale Repräsentationen im April 2007 sind eine Fortsetzung des „28.-Februar-Prozesses“. Aufgrund mangelnder Beweise für „Fundamentalismus“ und „Separatismus“ sind sie dieses Mal für ihre Legitimation auf die Mobilisierung der „patriotischen Nation“ angewiesen. Die Nation hat bereits die konstruierte „islamische und separatistische Gefahr“ erkannt und „sich selbst“ mobilisiert.
Die Gefährdung der Nation wäre jedoch für den nationalistischen Block ohne europäische Einmischung nicht möglich. Europa sei „doppelgesichtig“, „erzeuge“ Minderheiten und stelle Bedingungen, die die Integrität des türkischen Staates bedrohten. Der nationalistische Diskurs spaltet die türkische Gesellschaft in PatriotInnen und VerräterInnen, LaizistInnen und islamische FundamentalistInnen, „eigentliche“ und „pro-forma“ StaatsbürgerInnen. Mithilfe einer anti-imperialistischen Rhetorik und rassistischen Tönung versucht dieser Diskurs innenpolitische Dissensen aufzulösen und die „Nation“ zu disziplinieren. Denn ein EU-Beitritt der Türkei bietet den internen Anderen symbolisch-institutionelle Gelegenheiten an, ihre politische Subjektivität zu artikulieren. Es ist genau diese „heimliche Allianz“ zwischen europäischem pro-türkischem Diskurs und ausgeschlossenen internen Stimmen, die die kemalistische symbolische Ordnung bedroht und die militärische Intervention provoziert.
Bülent Küçük
Literatur
Navaro-Yashin, Y. (2002): Faces of the State. Secularism and public life in Turkey. Princeton & Oxford
Özyürek, E. (2006): Nostalgia for the Modern. State Secularism and Everyday Politics in Turkey. Durham & London