Ein Museum ohne Sammlung. Das Maison des Civilisation set de l’Unité Réunionnaise auf Réunion

Das MCUR wurde nicht ausgehend von einer Sammlung geplant, sondern aus dem Bedürfnis und dem Willen, einen Raum für Begegnungen, Auseinandersetzung und Interpretation zu ermöglichen. Als Museum versucht es, das Leben und die Erfahrungen marginalisierter Menschen „darzustellen”.

Im Jahr 2010 wird auf Réunion ein Museum und Kulturzentrum, das Maison des Civilisation set de l’Unité Réunionnaise (MCUR), eröffnen. Es wird das erste auf der Insel errichtete Museum sein, das zur Gänze aus der kolonialen und postkolonialen Erfahrung heraus geschaffen ist. In den letzten drei Jahren hat ein Team sein kulturelles und wissenschaftliches Programm erarbeitet und eine Reihe von Veranstaltungen organisiert.

Das MCUR wurde nicht ausgehend von einer Sammlung geplant, sondern aus dem Bedürfnis und dem Willen, einen Raum für Begegnungen, Auseinandersetzung und Interpretation zu ermöglichen. Als Museum versucht es, das Leben und die Erfahrungen marginalisierter Menschen „darzustellen”: SklavInnen, Schuldknechte, arme SiedlerInnen, die Prozesse der Kreolisierung und die vielschichtige Komplexität der Welt des Indischen Ozeans. Die Ziele und die Philosophie des MCUR beruhen auf einer Analyse der Geschichte der Insel ebenso wie auf der Geschichte des Museums, die in ihm angewendeten Vermittlungsformen beruhen auf dem von postkolonialer Theorie, Genderforschung, Psychoanalyse und Visual Theory angebotenen Instrumentarium der Auseinandersetzung.

Eine kurze und eine lange Geschichte

Die Insel ebenso wie ihre Gesellschaft sind jung. Die Insel ist kaum 3 Millionen Jahre alt und noch immer im Entstehen begriffen: der Vulkan ist äußerst aktiv, der Boden schwach, das bebaubare Land nur ein schmaler Streifen rund um die Insel und riesige Berge verbieten die Errichtung von Straßen von einer Seite zur anderen… Ihre Gesellschaft ist das Ergebnis der durch Sklavenhandel und Sklaverei bedingten Globalisieruung, als die nach Kaffee, Gewürzen und Zucker süchtigen europäischen Gesellschaften darauf aus waren, Territorien zur Errichtung von Plantagen mit einer versklavten ArbeiterInnenschaft zu errichten (bevor Frankreich von ihr „Besitz“ nahm, gab es keine indigene Bevölkerung auf der Insel). Diese Form der Globalisierung erschaffte jene, „die nicht zählen”; Menschen, die zu Dingen gemacht wurden, zu meubles (Einrichtungsgegenständen), wie es im Code Noir heißt, einem französischen Gesetzeswerk, das das Leben der SklavInnen regulierte. Die kurze Geschichte von Réunion ist eingeschrieben in die langen Geschichte kolonialer Sklaverei und des europäischen Imperialismus, aber auch Teil der Millionen Jahre langen Geschichte des Indischen Ozeans.

Um die 200 000 Gefangene wurden als SklavInnen nach Réunion gebracht, gekauft in Madagaskar, Ostafrika und in geringerer Anzahl in Indien und auf den Komoren. Sie haben keine Namen und keine Gräber hinterlassen, aber eine komplexe immaterielle Kultur. Die Maroons, jene SklavInnen, die der Schuldknechtschaft entkamen, und ihr langer Widerstandskrieg prägten die Insel und ihre Vorstellungswelt sehr stark. Die Namen, die sie den Bergen, Flüssen und Dörfern im Inneren gegeben haben, zeichnen diese nach als Orte der Freiheit – Dimitile, Cimendef, Ciloas, Mafate, Salazie… – gegen die Orte des Terrors und der Sklaverei an der Küste mit ihrem katholischen Rosenkranz von Namen: Saint-Pierre, Sainte-Marie, Sainte-Suzanne, Saint-Denis, Saint-Louis, Saint-Leu, Saint-Philippe, Sainte-Rose… Die Sklaverei warf Menschen verschiedener Sprachen, Kulturen, Religionen und Ideen unter den Bedingungen brutaler Ausbeutung zusammen. Doch wurde das so genannte „Lager der Sklaven“ zu Räumen, in denen die Prozesse der Kreolisierung entstanden, und das ist das Paradox der Sklaverei: Brutalität und Tod und Kreativität und Leben.

Kreolisierung meint hier einen Prozess von Verlust und Entlehnung; Bruchstücke verschiedener Sprachen werden aufgenommen, um eine gemeinsame Sprache herauszubilden, eine gemeinsame Welt von Ritualen und sozialem Austausch. Kreolisierung ist eine Überlebensstrategie: In einer Situation zwischen Leben und Tod muss man lernen zu übersetzen. Wenn ich die Bedeutung einer Geste oder eines Befehls nicht verstehe, riskiere ich Bestrafung und Tod. Ich muss Dinge in einer Welt verstehen, in der meine eigene Welt vollkommen umgeworfen wurde, in der ich alles verloren habe, was mir bekannt war, meinen Namen, meine Familie, mein soziales Umfeld; verschleppt auf die andere Seite des Ozeans und in einen Abgrund aus Gewalt geworfen. Wohin sich wenden? Worin Sinn finden? Kreolisierung ist hier nicht Hybridität; sie beschreibt vielmehr eine Situation tiefer Ungleichheit unter erzwungenen Umständen und Strategien des Überlebens.

Am 20. Dezember 1848 wurde auf Réunion die Sklaverei abgeschafft. 60 000 SklavInnen, Kinder, Frauen, Männer wurden befreit. Die koloniale Klasse der EigentümerInnen wandte sich dem System der Schuldknechtschaft zu: Tausende von Männern und in geringerer Anzahl auch Frauen wurden aus Südindien und in geringerem Ausmaß auch aus Südchina, Madagaskar, Mozambique und von den Komoren geholt, um die befreiten SklavInnen auf den Plantagen zu ersetzen. Obwohl die Abschaffung der Sklaverei bedeutete, dass die früheren SklavInnen nun zu BürgerInnen der Französischen Republik geworden waren, blieben sie kolonisiert. Diese paradoxe BürgerInnenschaft, gleichzeitig BürgerIn und kolonisiert zu sein, lastete schwer auf dem politischen Leben.

Die ersten Gewerkschaften und freien Versammlungen entstanden in den 1920er Jahren. Die Forderung nach Gleichheit mobilisierte die Bevölkerung. Die antikolonialen Bewegungen forderten, dass die Bevölkerung Réunions nach der liberté, Freiheit (1848), égalité, Gleichheit, erhalten müsse. Ihnen war klar, dass in Frankreich eine „color line“, um W.E.B. DuBois’ Formulierung zu entlehnen, quer zum Konzept der BürgerInnenschaft verlief. Trotz ihrer Behauptung als universelles Prinzip, war die BürgerInnenschaft ebenso wie das aus ihr folgende Gleichheitsprinzip von rassistischem Denken beeinträchtigt: Konnten „Schwarze“, Nachkommen von SklavInnen als „vollwertige“ BürgerInnen betrachtet werden? Die Rassifizierung, die Afrikanisierung der Sklaverei veränderte zutiefst die Formen der Auseinandersetzung mit Menschen aus Afrika. Zu Ende des 17. Jahrhunderts waren „nègre“, Schwarzer und Sklave Synonyme in französischen Wörterbüchern. Freiheit war eine Frage der Farbe, da Weiße „natürlich“ frei waren, während people of color diese Freiheit erst erlangen und beweisen mussten, dass sie wert waren, frei zu sein.

Die antikoloniale BürgerInnenrechtsbewegung wuchs während der 1930er Jahre an und führte zum Ende des kolonialen Status’ am 19. März 1946, einem Jahrhundert nach der Abschaffung der Sklaverei. Doch das Versprechen der Gleichheit wurde nicht gehalten und die Bewegungen der damit Unzufriedenen erweiterten sich in den 1950er Jahren, was zur Schaffung politischer Parteien führte, die entweder für mehr Autonomie vom französischen jakobinischen System waren oder eine stärkere Anbindung an Frankreich verlangten. Die BürgerInnenrechtsbewegung war weiterhin vielfältig und stark. Sie kritisierte die andauernde hohe Armutsrate, Analphabetismus, Kindersterblichkeit, das Monopol in der Zuckerrohrindustrie und die Verbindung zwischen der katholischen Kirche und den Resten der Kolonialgesellschaft. Zu den Waffen der Mächtigen zählten politische Repression, die Aberkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie auf den Ausdruck kreolischer Kultur. Doch eine aus der antikolonialen Bewegung hervorgegangene kulturelle Bewegung stärkte bis zu den 1970er Jahren die Geschichte, Sprache und Kultur Réunions. Sie verwendete das Vokabular kultureller Dekolonisierung, doch ohne jenes der Nationenbildung.

In den 1980er Jahren verkauften die großen lokalen LandeigentümerInnen ihren Zuckerrohrbesitz an Monopole und investierten ihr Kapital in den Handel mit Importwaren. Innerhalb von 20 Jahren entwickelte sich Rénunion von einer bäuerlichen Gesellschaft zu einer Gesellschaft des Massenkonsums, wobei ein wesentlicher Teil der Bevölkerung von staatlicher Unterstützung lebt, die Arbeitslosigkeit nahezu 30% beträgt, breite Bildungsmaßnahmen gescheitert sind und die ökonomische Abhängigkeit wächst. Einkaufszentren, Autos, Geländewagen, Mobiltelefone, TV,... alle Zeichen der „Moderne“ wurden geboten, um die Lücke der Abhängigkeit zu schließen.

Museum und Postkolonialismus

Museen sind verbunden mit dem Prozess der Nationenbildung, Gebäude, die die Schätze der Nation zur Bildung des/r BürgerIn versammeln. Nationale oder private Sammlungen werden ausgestellt, um das Ideal einer erhabenen Ästhetik zu behaupten, doch sind gerade diese Sammlungen oft das Resultat von Diebstahl und Plünderung. Auf Réunion wurde weder „große“ Kunst produziert noch gibt es geraubte Schätze. Wir bauen keine Nation. Aber warum dann ein „Museum“ an einem postkolonialen Ort, der über keine vorkoloniale Erfahrung verfügt und keine Paläste, Statuen, Gemälde, Masken oder Kunstobjekte hervorgebracht hat? Warum ein Museum, wenn es nicht einmal eine Sammlung gibt? Warum kein Kulturzentrum, ein Jugendzentrum oder eine Galerie?

Wir haben uns aus einer Reihe von Gründen dazu entschlossen, es ein Museum (und Kulturzentrum, doch wir möchten bei dem Begriff des „Museums“ bleiben) zu nennen. Vor allem ist es eine Geste politischer Aneignung. Normalerweise gibt es Kulturzentren für den „Süden“ und Museen für den „Norden“. Wenn es aber Museen im „Süden“ gibt, dann sind sie europäischen Museen nachgebildet. Ich glaube aber, dass wir uns der Herausforderung einer visuellen Darstellung der Begegnungen, Kämpfe, Sprachen und Kreolisierungsprozesse stellen müssen. Die neuen, durch die Dekolonisierung und dann durch den Fall der Sowjetunion und die Entstehung neuer „Nationen“ produzierten Grenzen, die neuen Kontakt- und Konfliktzonen und die neuen Migrationsbewegungen können visuell „dargestellt“ werden, um ein komplexes und sich veränderndes Bild der dabei wirksamen Prozesse zu entwerfen. Außerdem wird es ein Museum der lebendigen Gegenwart sein. In einer Situation, in der die materiellen Spuren der Vergangenheit (der SklavInnen, Schuldknechte, Gefangenen, Armen, ...) zerstört und ausgelöscht wurden und hohe Arbeitslosigkeit, eine langsame Auslöschung des Kreolischen und softer Multikulturalismus herrschen; in der es ein vom Zivilisationismus (dem Annehmen von Zeichen der Zugehörigkeit zu alten Kulturen wie Saris, Bräuche, purifiziert Rituale, erfundene Traditionen) verleitetes KleinbürgerInnentum gibt; in der Museen auf dem geschriebenen Wort basieren und so nur für eine Elite zugänglich sind; und in der schließlich regionale Kräfte (Indien, China, Islam) sich über die Instrumentalisierung der alten Diasporas einmischen, glaube ich, dass es notwendig ist, neue Gegenpraktiken zu entwickeln und dass das Museum die Möglichkeit für solche Praktiken bietet. Als Raum für multilinguale, internationale und lokale Begegnungen, Neuinterpretationen der Vergangenheit und Phantasie kann es helfen, das Gemeinsame neu zu definieren.

Anmerkung

Informationen über das wissenschaftliche und kulturelle Programm des MCUR sowie andere Informationen sind in englischer Sprache online verfügbar auf: s. Seite MCUR

Der vorliegende Text ist eine gekürzte, schriftliche Version eines Vortrags, den Françoise Vergès unter dem Titel „Displaying Postcoloniality“ im Rahmen des Projekts translate. Beyond Culture: The Politics of Translation Anfang Mai 2007 im Wiener Depot gehalten hat.

Englischsprachige Langversion des Textes unter: translate

Françoise Vergès lehrt am Goldsmiths College in London und ist Teil des wissenschaftlichen Teams des MCUR.

Übersetzung: Therese Kaufmann