Eine Neue Soziale Bewegung?

Organisationsformen der spanischen Roma.

Das erste Dokument, das von der Präsenz der Roma in Spanien zeugt, stammt aus dem Jahr 1425: Johann II., König von Aragón, gewährte Juan und Tomás die Durchreise. Juan und Tomás, die sich selbst „Grafen von Unterägypten“ nannten, wollten von Norden aus die Iberische Halbinsel durchqueren, den mittelalterlichen Pilgerwegen nach Santiago de Compostela folgend. 1492 einten Isabella I. von Kastilien und ihr Mann Ferdinand II. von Aragon, die „katholischen Könige“, die spanischen Königreiche über einen Prozess der sozialen und kulturellen Integration, der rücksichtslos umgesetzt wurde und unter anderem die Vertreibung der Juden und Mauren beinhaltete. Die Roma entgingen der Vertreibung – vermutlich weil sie verhältnismäßig wenige waren, weil sie sich aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise entziehen konnten und weil sie zum Katholizismus konvertierten. Die spanische Bezeichnung für Roma, „Gitano“, dürfte vom spanischen Ausdruck „Egipcio“, „Ägypter“, entlehnt sein.

Auch wenn die Roma heute im Allgemeinen gesellschaftlich gut integriert sind, müssen wir weiterhin und verstärkt gegen Rassismus, stereotype Zuschreibungen und Vorurteile kämpfen, die tief in der spanischen Mehrheitsbevölkerung verwurzelt sind. Die Roma sind in Spanien, neben den Menschen aus den Staaten des Maghreb, die Bevölkerungsgruppe mit dem schlechtesten Image: 52 Prozent der Mehrheitsbevölkerung hegen keine oder kaum Sympathien für Roma.

Formal gleichberechtigt, de facto diskriminiert

Heute leben Roma in den großen spanischen Städten ebenso wie in den ländlichen Gegenden. Nomadentum existiert nicht mehr. 1991 konstatierte die NPO Fundación Secretariado Gitano in einer Studie, dass 90 Prozent der Roma 15 Jahre oder länger an demselben Ort gewohnt hatten. Es gibt keine offiziellen Statistiken dazu, wie viele Roma in Spanien leben, mehrere Studien (1) gehen aber übereinstimmend von einer Zahl von etwa 725.000 bis 750.000 aus, was einem Anteil von 1,87 Prozent an der spanischen Gesamtbevölkerung entspricht. Die spanischen Roma sind die fünftgrößte Roma-Community in Europa und nach 35 Jahren Demokratie in Spanien eine der am besten integrierten.

Die Teilhabe der Roma am sozialen, öffentlichen und politischen Leben ist eng verbunden mit der Entwicklung der Demokratie und der Verabschiedung der spanischen Verfassung 1978. Seit 1978 gelten die Roma, die zu diesem Zeitpunkt bereits über 500 Jahre auf der Iberischen Halbinsel gelebt hatten, gemäß der Verfassung als gleichberechtigte StaatsbürgerInnen. Obwohl sie formal über die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen spanischen StaatsbürgerInnen verfügen, ist die tatsächliche Situation der Roma weit von Gleichheit entfernt. Wie das Centro de Investigaciones Sociológicas festgestellt hat, sind die Roma die in Spanien am stärksten diskriminierte Volksgruppe (2). Mehr als 40 Prozent der SpanierInnen würde es „sehr“ oder zumindest „etwas“ stören, eine/n Rom/Romni zum/zur NachbarIn zu haben, jede/r Vierte würde die eigenen Kinder nicht gerne gemeinsam mit Roma-Kindern in einer Schulklasse sehen. Die Arbeitslosenquote unter den Roma liegt bei 42 Prozent, 17 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Es gibt „Ghettoschulen“, in denen 98 Prozent der SchülerInnen Roma sind, der Zugang zum Wohnungsmarkt ist schwierig.

Die spanische Roma-Bewegung

Ein Weg, wie Roma gemeinschaftlich gegen diese Realität ankämpfen können, ist die spanische Roma-Bewegung. Sie setzt sich aus diversen sozialen und konfessionellen (katholischen wie evangelischen) Vereinigungen, aus Jugendorganisationen, Institutionen der Mehrheitsgesellschaft, die sich für die Roma einsetzen, sowie einzelnen Einrichtungen der öffentlichen Hand zusammen.

Meiner Ansicht nach sollten die Roma in der politischen wie der sozialen Arena aktiver auftreten und gemeinsam für mehr Einfluss auf Staat und Gesellschaft kämpfen. Eine Möglichkeit, hier eine Strategie zu entwickeln, liegt für mich darin, die Roma-Bewegung als Neue Soziale Bewegung zu begreifen. Aber ist die Roma-Bewegung eine wirkliche Neue Soziale Bewegung? Ich möchte in der Folge kurz auf die Bedingungen bzw. Charakteristika Neuer Sozialer Bewegungen eingehen:

Folgt man etwa Pedro Ibarra (3), so charakterisiert sich eine soziale Bewegung durch die gemeinschaftliche Aktion: Große informelle Zusammenschlüsse von Einzelnen oder Organisationen konzentrieren sich auf spezifische politische oder soziale Themen. Mit anderen Worten: Sie setzen einen sozialen Wandel um oder stellen sich ihm entgegen. In Zusammenhang mit Neuen Sozialen Bewegungen kann man von vier spezifischen Grundbedingungen sprechen: Kollektiver Identität, konfliktiver Herangehensweise, informellen Strukturen sowie einer Netzwerkstruktur. Entspricht die spanische Roma-Bewegung diesen Charakteristika? Sehen wir sie uns genauer an:

Kollektive Identität:

„Identität“ ist ein Schlüsselbegriff für die Roma, sei es auf privater Ebene oder im öffentlichen, sozialen und politischen Bereich. Wir als Roma haben sie im Gegenüber zur Nicht-Roma-Gesellschaft ausgebildet, es ist eine starke Identität, die auf Werten wie dem Respekt vor der älteren Generation basiert (ein Roma-Sprichwort lautet zum Beispiel: „Wenn ein alter Mensch stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek“), auf der Positionierung der Familie als Zentrum aller Beziehungen nach außen oder auch darauf, dass die Macht der Gruppe mehr zählt als die Macht des/der Einzelnen. Der vordringlichste gemeinsame Wesenszug, den die Roma entwickelt haben, ist also diese eigene Identität, die je nach Gruppe oder Region changieren mag, aber Grundwerten folgt, die überall und für alle gelten.

„Eine kollektive Identität ist eine interaktive, gemeinsam getragene Definition, die von Einzelnen oder Gruppen festgelegt wird, (…) das Resultat eines Verhandlungsprozesses zwischen verschiedenen Komponenten und Abgleichen, die mit den Intentionen kollektiver Identität in Verbindung stehen“, schreibt der italienische Soziologe Alberto Melucci. (4) Gemäß dieser Argumentation haben die Roma in Spanien von 1425 an ihre Identität entwickelt, und die Eckpfeiler im Prozess der Verhandlung waren die Anti-Roma-Gesetze, die diese Identität, die wiederum heute in der Struktur der Roma-Bewegung spürbar ist, stärkten.

Konfliktive Herangehensweise:

Offensives Konfliktverhalten existiert sowohl gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als auch zwischen den einzelnen AkteurInnen der Roma-Bewegung. Ersteres ist vor allem in der fehlenden Anerkennung der Kultur und der Identität der Roma im öffentlichen Leben begründet. So finden sich in den Lehrbüchern der Volksschulen und der weiterführenden Schulen keine Inhalte zur Geschichte bzw. keine adäquate Darstellung von Kultur und Identität der Roma. Romanes gilt – im Gegensatz zu Katalanisch in Katalonien, Euskera/Baskisch im Baskenland und Galicisch in Galicien – nicht als kooffizielle Amtssprache. Vor allem aber sind die spanischen Roma nicht als Minderheit, weder als kulturelle noch als soziale, anerkannt.

Konfliktives Verhalten der AkteurInnen untereinander entsteht durch die Verschiedenheit eben dieser AkteurInnen: Organisationen mit konfessionellem Hintergrund arbeiten mit BürgerInneninitiativen zusammen, ethnische, Pro-Roma-, Frauen-, Jugendbewegungen etc. treffen aufeinander. Manchmal befördert auch das Ringen um finanzielle Mittel und Einfluss die Auseinandersetzungen.

Informelle Strukturen:

Auch wenn öffentliche und politische Einrichtungen gerne eine Roma-Bewegung in struktureller Analogie zu anderen Bewegungen aufgebaut hätten, sind die Roma selbst hier bei einem Konzept informeller Organisation geblieben. Dies vor allem deshalb, weil die Roma-Bewegung eher auf Konzepten der regionalen und familiären Verortung beruht als auf dem Konzept einer Gruppenidentität, die auf der Mitgliedschaft in eben dieser Gruppe fußt. In diesem Sinne ist für den Aufbau von Beziehungen und für Prozesse der Teilhabe zum Beispiel das Konzept der familiären Bindung entscheidend, standardisierte Strukturen und Rahmenbedingungen kommen nicht zum Tragen.

Internetzugang und soziale Netzwerke ermöglichen auf informellem Weg die Verbindung zwischen einzelnen Gruppierungen und Organisationen und tragen so zu einem besseren Wissen voneinander und zur Intensivierung der Zusammenarbeit bei.

Netzwerkstruktur:

Die spanischen Roma-Organisationen wurden nach dem Vorbild von Nicht-Roma-Organisationen aufgebaut, das heißt als Modell einzelner, verstreuter Einrichtungen, die regional oder zielgruppenspezifisch arbeiten. In den 1980er-Jahren nahmen viele lokale und regionale Roma-Organisationen ihre Arbeit auf, zum Teil konkurrierten sie um Aufmerksamkeit in den jeweiligen Stadtvierteln oder Städten, die Ergebnisse blieben bescheiden. Erst Mitte der 1990er-Jahre begannen die Institutionen zusammenzuarbeiten. Diesen Prozess könnte man als „kollektives Aktionsbündnis“ bezeichnen, er führt in Richtung der eingangs erwähnten Neuen Sozialen Bewegungen. Verschiedene Organisationen formen dieses Bündnis:

1. Soziale und ethnische Organisationen von Roma, also Roma-Verbände im Allgemeinen, Frauen-, Jugend- und Bildungsorganisationen sowie andere Vereinigungen, die eine Art zeitgenössische Version der früheren lokalen Roma-Verbände darstellen: All diese Einrichtungen sind gut an die Community angebunden und wissen um die Notwendigkeiten und die Situation der Basis. Die lokalen Roma-Communitys anerkennen sie im Regelfall und schätzen ihre Arbeit.

2. Pro-Roma-Organisationen, also von Nicht-Roma geführte Einrichtungen, die sich für die Belange der Roma engagieren: Diese Organisationen zeichnen sich durch Professionalität aus, manchmal fehlt ihnen aber das Wissen um Situation und Lebensumstände der Roma.

3. Konfessionelle Verbände: 95 Prozent der spanischen Roma bekennen sich entweder zum evangelischen oder zum katholischen Glauben. Organisationen beider Glaubensgemeinschaften haben gute Kontakte in die lokalen Roma-Communitys, auch wenn eine gegenseitige Unterstützung oder Anerkennung kaum vorhanden ist.

4. Medien: Die wichtigsten spanischen Roma-Medien werden von NGOs herausgegeben: So veröffentlicht die Romani Union die Zeitung Nevipen Romani, Fundación Secretariado Gitano gibt Gitano heraus oder das Roma Culture Institute die Cuadernos gitanos.

Die spanische Roma-Bewegung hält sich in ihren Strukturen und Arbeitsmethoden an die Vorlage anderer Minderheiten-Bewegungen. Um zu einer wirklichen Neuen Sozialen Bewegung zu werden, muss die familiär strukturierte Sozialbewegung der Roma ihre Möglichkeiten erkennen. Folgende Ratschläge könnten diesen Paradigmenwechsel begleiten: Erstens ist Geduld vonnöten; die Roma-Bewegung will oft schnelle Ergebnisse sehen und lässt dabei außer Acht, dass es sich hier um einen schrittweisen Prozess handelt. Zweitens: Niemand darf von Verhandlungen ausgeschlossen werden, die Roma-Bewegung sollte alle Zielgruppen innerhalb der Roma umfassen. Und nicht zuletzt ist es – drittens – wichtig, sich ein klares Bild der realen Situation zu machen, um Paternalismus, Overprotection oder auch Desinteresse zu vermeiden.

Pedro Aguilera Cortés ist Roma-Aktivist und in stellvertretender Funktion spanischer Experte in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI). Er ist Berater der Fundación Pere Closa, die sich vor allem in Bildungsfragen für die Roma in Katalonien engagiert sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter des EU-Kultur-Projekts Romanistan. Crossing Spaces in Europe.

Übersetzung aus dem Englischen: Patricia Köstring

Fußnoten

(1) National Spanish Roma Strategy, 20/20 (2011), Laparra, M. (Hg.) (2007): Informe sobre la situación social y tendencias de cambio en la población gitana. Una primera aproximación. Madrid, Studien des Sozialministeriums sowie offizielle Statistiken des Europarats.

(2) Vgl. hierzu: www.gitanos.org/areas/igualdad_de_trato_y_no_discriminacion/noticias/26701.html

(3) Ibarra, Pedro (2000): ¿Que son los movimientos sociales?. Anuario Movimientos Sociales. Icaria Editorial y Getiko Fundazioa. Barcelona.

(4) Melucci, Alberto (1996): Challenging Codes: Collective Action in the Information Age, Cambridge.