“Israel wird mit der Hamas sprechen, und die Hamas wird mit Israel sprechen”

Die palästinensischen Wahlen vom 25. Jänner sahen die islamistische Hamas mit 57,6 Prozent als deutliche Siegerin hervorgehen. In einer Vielzahl von Kommentaren und internationalen politischen Reaktionen dokumentiert sich seither Ratlosigkeit und Verstörung.

Die palästinensischen Wahlen vom 25. Jänner sahen die islamistische Hamas mit 57,6 Prozent als deutliche Siegerin hervorgehen. In einer Vielzahl von Kommentaren und internationalen politischen Reaktionen dokumentiert sich seither Ratlosigkeit und Verstörung. Die Kulturrisse sprachen mit Ronnie Shenda, als israelische Aktivistin bis vor zwei Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten tätig und heute Betreiberin des unabhängigen politisch-kulturellen Veranstaltungsraums Daila in Jerusalem, über die Basisarbeit der Hamas sowie ihre Einschätzung der Gründe des palästinensischen Wahlausgangs.

Kulturrisse:
Die Diskussionen nach dem Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten waren stark von zwei Motiven geprägt. Das erste betrifft nicht zuletzt europäische KommentatorInnen, die einen Zusammenhang zwischen dem Wahlausgang und dem Korruptionsgrad der bisher regierenden Fatah herstellten. Das zweite Motiv betrifft, durch diese allzu schematische Erklärung vielleicht begünstigt, u. a. die Selbstdarstellung der Hamas nach den Wahlen: Es handle sich um einen „normalen“ demokratischen Wechsel, und wer Demokratie wolle, müsse eben auch diesen Wahlausgang akzeptieren. Keine dieser Deutungen scheint mir hinreichend darüber Aufschluss zu geben, warum es gerade der Hamas gelungen ist, eine dermaßen starke Position in den Autonomiegebieten zu erlangen. Wie schätzt du die Gründe des palästinensischen Wahlausgangs ein?

Ronnie Shenda:
Ich bin sicherlich nicht die passendste Person, um diese Frage zu beantworten: Ich bin keine Palästinenserin, ich lebe nicht in den besetzten Gebieten, ich habe die Hamas nicht gewählt, und ich bin auch keine professionelle Analytikerin. Ich denke aber, ein wichtiger Aspekt ist in der Tatsache zu sehen, dass die Hamas während der gesamten zweiten Intifada eine ganze Menge an sozialen Diensten angeboten hat, die der Bewegung eine Vielzahl von Menschen zugeführt haben, jedenfalls an der Basis, nicht unbedingt in einem explizit politischen Sinn. Es ist allen religiösen Bewegungen gemeinsam, dass sie Dienste für spezifische Gruppen, Frauengruppen, Jugendgruppen etc. anbieten. Am besten weiß ich über die Frauengruppen Bescheid. Es geht hier um Bildungsarbeit, um die Herstellung von bildungsbezogenen Gemeinschaftsräumen, beispielsweise um die Vermittlung von Lesekompetenz, die es Frauen ermöglicht, den Kindern nach der Schule Unterricht zu geben oder auch religiöse Kurse zu besuchen. Es handelt sich um soziale Dienste, auch wenn es am Ende eine Art ist, Leute für die Religion zu rekrutieren. Auf der anderen Seite herrscht in den Gebieten, ebenso wie in Israel, aber in weit höherem Ausmaß, einfach Verzweiflung. Die Situation hat sich in all den Jahren der Okkupation nicht verbessert, sondern sich speziell im Lauf der zweiten Intifada eher weiter verschlechtert. Folglich haben die Menschen eine Veränderung herbeigesehnt. Das hat sicherlich mit der Korruptheit der palästinensischen Autonomiebehörde zu tun, auch damit, dass sie nichts erreicht hat und ihren Zielen nicht näher gekommen ist. Aber ich glaube auch, dass die Leute nach einer größeren und breiteren Veränderung streben: In all dem, was in den vergangenen Wochen geschehen ist, den Demonstrationen, den Karikaturen etc., manifestiert sich ein starker Antagonismus gegenüber der Art und Weise, wie der Westen mit der Situation umgeht. Nehmen wir die UNO, die sicherlich eine ehrenwerte, nichtsdestoweniger eine westliche Institution ist, all die Entscheidungen bezüglich Palästinas, des palästinensischen Landes, des Rückkehrrechts der Flüchtlinge: Was ist bisher dabei herausgekommen? Oder die vielen NGOs, die in den besetzten Gebieten arbeiten: Haben sie irgendeine signifikante Veränderung hinsichtlich der Lebenssituation der Menschen herbeigeführt? – Nein. Wir sehen also all diese Aktivitäten des Westens, während die Leute in den Gebieten selbst nicht viel davon haben. Deshalb gab es z.B. auch Attacken auf Kulturinstitutionen, die Dinge ermöglicht und Ressourcen bereitgestellt haben mögen, die die Menschen vielleicht für einige Jahre nicht mehr zu Gesicht bekommen werden. Aber die Angriffe sind auch eine Art zu sagen: „Das hilft uns nicht. Wir brauchen keine Bands aus Deutschland oder Frankreich, das führt uns nirgendwo hin; es mag unser Leben ein bisschen besser machen, aber was wir brauchen, ist das Ende der Okkupation.“ Außerdem sind die meisten Menschen in den besetzten Gebieten davon überzeugt, dass Israel nicht an Frieden interessiert ist, so wie Israel davon überzeugt ist, dass die PalästinenserInnen nicht an Frieden interessiert sind. Ich würde übrigens nicht sagen, dass Israel nicht an Frieden interessiert ist, an einem Frieden allerdings zu seinen eigenen Bedingungen. In Israel haben wir diesen Spruch, dass nur die politische Rechte dazu in der Lage ist, Frieden zu schließen, weil nur die Rechte mit der Hamas und den besetzten Gebieten umgehen kann, und nicht zuletzt mit der israelischen Gesellschaft, in der sie sehr viel mehr Unterstützung hat als die Linke. Nun haben wir in den Autonomiegebieten also möglicherweise eine ähnliche Situation. Die Leute favorisieren eine unilaterale Position, die nicht einmal das Existenzrecht Israels anerkennt. Was nicht heißt, dass alle Menschen, die für die Hamas gestimmt haben, Israels Existenz nicht anerkennen – das stimmt nicht einmal für alle Parteimitglieder der Hamas.

Kulturrisse:
Die Hamas wird üblicherweise als radikal-islamistische Partei oder Bewegung eingeschätzt. Du hast die verschiedenen Positionen angesprochen, die es innerhalb der Hamas gibt, und die Hamas ist ja auch in hohem Maße auf internationale Unterstützungsgelder angewiesen. Könnte also die Integration der Hamas in Verhandlungsprozesse zu einer gewissen „Deradikalisierung“ beitragen? Eine zweite Frage bezieht sich auf die ideologischen Grundlagen der Hamas, die zu einem wesentlichen Teil von antisemitischen Haltungen geprägt zu sein scheint: Wie schätzt du die Hamas in diesem Punkt ein?

Ronnie Shenda:
In Opposition zu sein ist natürlich einfacher, als die Macht innezuhaben und eine funktionierende Alternative anzubieten. Die Hamas wird sich, wenn sie sich auf Verhandlungen einlässt, auch auf Kompromisse einlassen müssen. Und wie es derzeit aussieht, wird Israel mit der Hamas sprechen und die Hamas wird mit Israel sprechen, auch wenn jetzt alle große Gesichter machen. Was die zweite Frage anbelangt, so gibt es zweifellos eine Reihe von Hamas-Repräsentanten, die extremistisch sind. Andere sind religiös, halten an den Positionen einer islamischen Partei fest, ohne deswegen extremistisch zu sein. Die Situation ist meines Erachtens ähnlich wie im Iran: Die Tatsache, dass sie einen Wahnsinnigen als Präsidenten haben, heißt noch nicht notwendigerweise, dass die Leute im Iran seine Ansichten teilen. Ich glaube aber nicht, dass die Position der Hamas so extrem ist wie die Ahmadinedjads. Zudem gibt es eine Abhängigkeit der Autonomiegebiete von Israel und dem Westen. Was den Antisemitismus betrifft, so denke ich nicht, dass das Thema hier, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, in derselben Weise zu sehen ist wie an anderen Orten, beispielsweise eben im Iran bzw. seinem derzeitigen Präsidenten, der wirklich besessen davon ist, oder auch, anders, in westlichen Ländern. Das zentrale Thema ist die Okkupation. Es liegt aber natürlich eine Zweideutigkeit in all dem Sprechen über „die Juden“ hier, das sich einmal auf Israel als Besatzungsmacht bezieht, das andere Mal antisemitisch ist – wobei auch der Antisemitismus anderer Länder weitergetragen wird.

Kulturrisse:
Kommen wir abschließend zur Arbeit von linken AktivistInnen und Menschenrechtsgruppen in den besetzten Gebieten. Gab es seitens der Hamas oder auch des Islamischen Djihad in den letzten Jahren Versuche, in diese Arbeit zu intervenieren? Welche Art von Beziehungen gab es zwischen diesen Gruppen und den islamistischen Kräften?

Ronnie Shenda:
Um irgendeine Art von Arbeit in den Autonomiegebieten zu tun, an der Israelis beteiligt waren, brauchte man die Zustimmung der Hamas und des Islamischen Djihad, andernfalls war es nicht sicher. Wer in einem palästinensischen Dorf aktiv werden wollte, musste zunächst über einen Zeitraum von ein paar Monaten Vertrauen aufbauen und mit allen Parteien reden.

Kulturrisse:
Es gab also Verhandlungsprozesse zwischen linken AktivistInnen und der Hamas oder dem Islamischen Djihad?

Ronnie Shenda:
Ja, klar. Ich bin nicht auf dem allerneuesten Stand, weil ich seit zwei Jahren nicht mehr in den Gebieten tätig bin. Aber es gab eigentlich nie große Probleme mit der Hamas oder dem Djihad. Man hatte ein Treffen mit israelischen und palästinensischen RepräsentantInnen, erklärte und diskutierte die Art von Arbeit, die man tun wollte, stellte vor, wer wofür verantwortlich war, und bekam üblicherweise das Okay. Wir werden zu sehen haben, wie sich diese Dinge in der Zukunft gestalten werden.

Die Ungläubigen

Vor kurzem noch wäre mir ein dänisches Restaurant im arabischen Viertel der Jerusalemer Altstadt wahrscheinlich ebenso wenig aufgefallen wie die in manchen Lokalen beliebte Kombination von Danish Cookies und Arab Coffee. Als ich Mitte Februar das Schild „Danish Restaurant“ las, war das anders. Wie sich schnell herausstellte, gehörte das Restaurant demselben muslimischen Mann, in dessen Lokal nebenan ich mit einigen anderen Personen zu Tisch saß. Nachdem er einige Fetzen unseres Gesprächs aufgeschnappt hatte, fragte er, ob einige von uns aus Dänemark wären. In der Frage lag nicht die geringste Unfreundlichkeit. Eher schon ein ungläubiges Staunen angesichts des lächerlichen Ernsts, den sie angenommen hatte.

Eine ähnliche Ungläubigkeit war mir einige Tage zuvor an Khalil, einem Lehrer und muslimischen Beduinen, begegnet: Er sei nicht wirklich religiös, die anlässlich des „Karikaturenstreits“ ausgebrochenen Tumulte und Gewaltakte lägen ihm fern, und was das mit Dänemark insgesamt zu tun haben solle, verstehe er ohnehin nicht. Aber er sehe in den im dänischen Jyllands-Posten veröffentlichten Karikaturen schlicht und einfach auch einen Ausdruck der Verachtung. Nicht des Religionsstifters Mohammed, wohlgemerkt, sondern derer, die der „muslimischen Welt“ zugerechnet werden.

Vielleicht wäre es an der Zeit, den europäischen Blick ein wenig aus seiner Fixierung auf die (muslimischen) Gläubigen zu lösen und stattdessen die Ungläubigen aller Länder, im einen wie im anderen Sinn, ernster zu nehmen. Vielleicht würde dann die Vehemenz, mit der sich viele EuropäerInnen darin gefallen, die Pressefreiheit genau dort zu verteidigen, wo sie ihre Gefährdung in ein finsteres Außen verlagern können, etwas nachdenklicher. Vielleicht würde man sich auch dafür zu interessieren beginnen, wie es kommt, dass ein Teil der neuen antimuslimischen Karikaturensprache, nicht nur in Jyllands-Posten, an antisemitische Bildtraditionen erinnert. So wie im Übrigen, um die Sache weiter zu komplizieren, auch der im Gründungsprogramm der palästinensischen Hamas niedergeschriebene Antisemitismus sich nicht nur aus islamischen, sondern auch aus europäischen Quellen nährt.

Kein Zweifel, die Freiheit ist, wo sie besteht, zu verteidigen. Die Forderung nach politischen Freiheiten ist historisch indes eng mit einer Praxis der kritischen Reflexion auf den Gebrauch von Freiheit verbunden. Wer Freiheit als abstraktes Gut verteidigt oder aber als „kulturelles Erbe“ verbucht, ohne sich zu einer solchen Reflexion zu bequemen, schneidet sich insofern von eben der Tradition ab, die er oder sie hochzuhalten vorgibt. Und vergisst dummerweise, im Zuge der Empörung über die Unaufgeklärtheit „der Anderen“, sich selbst aufzuklären.
An jenem eingangs erwähnten Tag in Jerusalem hatte unweit übrigens eine gegen die Karikaturen gerichtete Demonstration stattgefunden. Das dänisch-muslimische Restaurant hatte niemand zu stürmen versucht. Es hatte einfach nur geschlossen.

Stefan Nowotny