Kunst ist der Sauerstoff einer Stadt und muss so scharf wie möglich sein können.
„Kunst ist der Sauerstoff einer Stadt und muss so scharf wie möglich sein können. Daneben müssen wir mit den städtischen Einrichtungen stärker auf das eingehen, was die Einwohner be- schäftigt und auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren.“
Evi Gillard— Glückwunsch zur neuen Position – eine große Herausforderung! Du legst dir gleich die Latte hoch. Im Pressebericht der Stadt stehen deine Ambitionen so umschrieben: „Es ist nun an der Zeit, dass Löwen als viertgrößte Stadt Flanderns selbstbewusst mit einem weltoffeneren Blick seinen Platz behauptet.“ Wie willst du das realisieren?
Piet Forget—Vor zehn Jahren sagte der Bürgermeister von Löwen, Louis Tobback, dass Löwen einen zu hohen „Ernest Claes-Gehalt“ hat (ein flämischer Autor von Heimatromanen, A.d.Ü.): zu bürgerlich und nicht offen genug im Denken. Inzwischen hat sich viel verändert: Es gibt eine neue kulturelle Infrastruktur (Museum M, der erneuerte Konzertsaal Het Depot, die angesagte Kulturzeile OPEK) und zahllose neue Projekte und Organisationen (Braakland/ ZheBilding, Fabuleus, FONK ...). Löwen ist durchwegs in Bewegung, aber gleichzeitig gelingt es nicht gut genug, diese Strahlkraft und Position auch über Löwen hinaus bekannt zu machen. Das ist aber essentiell, um weiter Förderungen und Investitionen anzuziehen.
Diesen Schritt wollen wir dadurch erreichen, indem wir die Künste verstärken und auf gesellschaftspolitischer Ebene Breitenwirkung erreichen. Wir begreifen Kunst als eine Art R&D (Research&Development) Abteilung einer Stadt, wo experimentiert wird, anders gedacht werden darf und Grenzen aufgebrochen werden. Kunst ist der Sauerstoff einer Stadt. Durch sie entsteht Dynamik. Deshalb muss sie so scharf wie möglich sein können. Daneben, komplementär, müssen wir vor allem mit den städtischen Einrichtungen, wie der Bibliothek, den Kulturzentren und dem Erfgoedcel (eine Institution, die kulturelles Erbe auf lokaler Ebene verwaltet, A.d.Ü.) breiter anschließen an das, was in der Stadt lebt und bei den Bewohnern an Ideen und Talent sichtbar wird. Neben dem klassischen Kulturangebot, das vor allem die Mittelklasse bedient, wollen wir diese Funktion der Kunst weiter ausbauen.
Evi Gillard— Du bist auf verschiedenen Ebenen aktiv: lokal, regional, in ganz Flandern und auch international. Mit der neuen Funktion kehrst du zur lokalen Kulturpolitik zurück. Ist das für dich das interessanteste Arbeitsfeld?
Piet Forget—Der Kultursoziologe Pascal Gielen sagt dazu: „Jede Kulturpolitik ist gegenwärtig eine ,glokale‘ Kulturpolitik.“ Wenn meine Position durch die Stadtgrenzen Löwens begrenzt wäre, hätte ich damit ein Problem. Jede lokale Politik muss sich in einem globalen Kontext bewegen. Darum ist das für mich ein Ganzes: lokal und global zusammen.
Der große Vorteil von Arbeiten auf lokaler Ebene ist, dass du sehr konkrete Resultate siehst. Gleichzeitig ist es wirklich wichtig, international zu denken und einen weiten Blick auf die Welt zu haben. Lokal und international spielen dieselben Themen eine Rolle. Überall sucht man Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen, wie Vergreisung, Verjüngung der Bevölkerung, ethnische Diversifizierung, Zunahme der Armut, Demokratiedefizite usw. Aufgrund meiner Erfahrungen und meinem Netzwerk kann ich diese Themen miteinander in Beziehung setzen. Es ist ein Klischee zu sagen, dass internationale Kontakte interessant sind, weil man „die andere Kultur kennenlernt“. Das ist wahr. Was aber noch interessanter ist, dass man die eigene Position besser einschätzen lernt. Zum Beispiel, was die Rolle der Kulturzentren in Flandern betrifft, habe ich einschätzen gelernt, wo wir im Vergleich zu anderen Kulturzentren im Ausland stehen. Da lernt man, welche Vorteile unser Modell hat. Genauso lernt man, was weniger gut läuft.
Evi Gillard— Die Debatte über die Rolle von Kunst und Kultur und ihre gesellschaftliche Relevanz wird wieder stärker geführt. Stört dich das?
Piet Forget—Ja und nein. Ja, weil man erschrickt, dass das, wovon man selbst überzeugt ist, nicht für einen Großteil der Bevölkerung und die Politik gilt. Nicht wenige Menschen haben ein Problem mit der Kunstund Kulturförderung, auch wenn das peanuts im Vergleich mit anderen Bereichen sind. Andererseits fordert es von uns, herauszufinden, wie der Kultursektor gesellschaftlich relevanter werden kann und wie wir das sichtbar machen können. Meiner Meinung nach müssen sich die Künste „verschärfen“. Denn so können wir Veränderungen herbeiführen und gleichzeitig eine breitere Bevölkerungsschicht ansprechen.
Ich schließe mich der polnischen Aktivistin und Feministin Agnieszka Wisniewska an, dass wir uns weniger für „Kultur für die Menschen“ und mehr für „Kultur mit den Menschen“ einsetzen sollten. Diese Haltung ist essentiell, um die Basis für Kunst und Kultur zu verstärken. Dass derartige Debatten in ökonomisch schwierigen Zeiten auftauchen, ist naheliegend. Die flämische Regierung spart bei ihrem regionalem Kulturbudget 5% ein, in den Künsten bis zu 7,5% und beim Kulturerbe 4%.
Evi Gillard— Sind Einsparungen unvermeidlich?
Piet Forget—Nein, eine Regierung kann auch andere Wege gehen. Das Kulturbudget ist im Vergleich mit anderen Bereichen, wie dem Ankauf von Kampfflugzeugen, sehr klein. Dass nun so gespart wird, ist meiner Meinung nach vor allem ein ideologischer Schritt der heutigen Regierung. Die Krise ist hier in Flandern kein ausreichendes Argument.
Evi Gillard— Findest du diese Haltung schädlich? Und wenn ja, in welcher Form?
Piet Forget—Für Projekte, in die jahrelange viel Energie geflossen ist, die gute Arbeit geleistet haben und einen Mehrwert darstellen, besteht das Risiko zu verschwinden. Einige Kunsteinrichtungen arbeiten seit Jahren strukturell mit zu wenig Geld. Sie sind nun gezwungen, ihren Arbeitsumfang stark zu reduzieren.
Einsparungen haben vor allem Folgen für KünstlerInnen. Sie erhalten weniger Chancen, sich kreativ und kritisch zu äußern und so der Gesellschaft „Sauerstoff“ zu liefern. Das sehe ich als die größte Gefahr: Wir verlieren Jahre an fortschrittlicher Dynamik, und bestimmte Entwicklungen werden stillgelegt. Das bedeutet eine Verarmung des gesamten Arbeitsfeldes, aber auch gesamtgesellschaftlich.
Jede Krise bedeutet aber auch neue Chancen, zumindest dann, wenn die Einsparungen geringfügig sind. Der niederländische Ökonom Arjo Klamer fand heraus, dass Einsparungen dann sinnvoll sind, wenn du 90% deiner Mittel behalten kannst (also maximal 10% eingespart werden). Das führt zu einem Nachdenken über die eigene Kernkompetenz und sorgt manchmal für nützliche Anpassungen und neue Rahmenbedingungen. Größere Einsparungen sind schädlich und machen eine Einrichtung kaputt. Ich plädiere dafür, dass wir uns auf unsere Kernaufgaben konzentrieren und uns nicht zu sehr von einer Marktlogik lenken lassen.
Evi Gillard— Du hast viele internationale Kontakte. Wie geht man im Ausland mit dem Kultursektor in Krisenzeiten um?
Piet Forget—In den Niederlanden und Großbritannien gab es die größten Einsparungen. Aber ihre Budgets waren in den vergangenen Jahren die höchsten Europas. Die Mittel in Ostund Südeuropa für Kunst und Kultur waren bereits niedrig. Dort fiel man also von wenig nach nichts. Die skandinavischen Länder können so wie Flandern überleben. Überall in Europa wird gespart, aber die Wirkung ist von Ort zu Ort verschieden. In den Niederlanden und Großbritannien fällt nicht alles aus: Es gibt erfolgreiche Betriebe, die noch gut laufen. In Ostund Südeuropa ist die Dringlichkeit an Kulturarbeit so groß, dass sich Freiwillige trotz geringer Mittel bei unabhängigen Kulturzentren oder Einrichtungen engagieren. Kunst und Kultur sind dort stärker mit gesellschaftlichen Bewegungen verbunden als hier in Flandern. Bei uns ist viel institutionell organisiert, und ich vermisse manchmal die Vernetzung mit der Basis und dem was auf Grassroot-Ebene passiert.
In diesen Ländern bekommt man in Reinform zu sehen, was Kunst und Kultur in einer Gesellschaft bedeuten, wenn die gesamte Finanzierung wegfällt: dass bestimmte Menschen fort
fahren, sich gesellschaftlich zu engagieren und so ein demokratisches Zusammenleben ermöglichen. Und mit Demokratie meine ich nicht sosehr das, was die Mehrheit beschließt, sondern was es für mich selbst bedeutet: dass Minderheiten und die, die eine andere Meinung haben, geschützt und gehört werden.
Evi Gillard— Wie schaut Löwen in zehn Jahren aus?
Piet Forget—Ich möchte mich weiter dafür einsetzen, dass Löwen als ein lebendiger Ort wahrgenommen wird und Kunst und Kultur dabei eine wesentliche Rolle einnehmen. Ich muss hier spontan an Berlin und den Slogan: „Berlin, nachhaltig, kreativ und sozial“ denken. Diese drei Schlüsselbegriffe soll jeder binnen zehn Jahren auch mit Löwen assoziieren: nachhaltig, kreativ und sozial. Wenn das gelingt, haben wir Erfolg gehabt. In Berlin hat auch die Kunst den Wandel gebracht: Junge KünstlerInnen haben für die Aufwertung bestimmter Bezirke gesorgt. Man erzeugt eine bestimmte Dynamik in der Stadt, indem man die Künste unterstützt. Diese Dynamik ist gleichzeitig Katalysator für ökonomische und touristische Entwicklungen und eine mögliche Herangehensweise an soziale und gesellschaftliche Herausforderungen. „Leuven Klimaat Neutraal“ ist ein schönes Vorbild, wie kulturelle Akteure eine stimulierende Rolle einnehmen. Ein anderes Vorbild hier in Löwen ist das Projekt CasCo. In Absprache mit Projektentwicklern werden leerstehende Gebäude oder Bauprojekte, die über mehrere Jahre laufen, zeitlich von jungen KünstlerInnen genutzt. Das finde ich fantastisch. Diese Art von Initiativen will ich gerne weiter ausbauen.
Piet Forget war Direktor einiger Kulturzentren, als auch stellvertretender Direktor bei der Dachorganisation von Kulturzentren (Vlabra’ccent en Fevecc/VVC) des flämischen CultuurNet. Seit 15 Jahren hat er den Vorsitz der Löwener Theatergruppe Fabuleus, und war in den vergangenen 20 Jahren im Vorstand zahlloser Löwener Kulturorganisationen. Daneben ist er Initiator und Koordinator von Vitamine C, einem Netzwerk von Organisationen, die Kinder und Jugendliche in Flandern mit Kunst und Kultur in Berührung bringen. Vitamine C erhielt 2012 den flämischen Kulturpreis für Kulturerziehung. Er ist aktiv in verschiedenen europäischen Netzwerken (ENCC, IETM, Trans Europe Halles, Culture Action Europe en ICEnet) tätig.