Raumbesetzung in Amsterdam. Eine praktische Darstellung einer praktischen Sache
Nach einem kurzen Spaziergang gehen die BrecherInnen ans Werk. Da das gewaltsame Öffnen der Tür den einzig illegalen Aspekt einer Besetzungsaktion darstellt, bildet der Rest der Gruppe einen Halbkreis um die BrecherInnen, als Schutz vor Kameras und der Polizei. Mit Zange, Schraubenzieher, Flipperkarte, Motorflex, eigens angefertigten hydraulischen Geräten und natürlich dem Brecheisen werden beinahe jeden Sonntag Türen aller Art gebrochen.
Sonntag, 22.04.2007, Amsterdam:
Eine Gruppe von ca. 60 Menschen versammelt sich im „Vrankrijk“, einem ehemals besetzten, mittlerweile legalisierten sozialen Zentrum in der Amsterdamer Innenstadt. Nach Ablauf der „Autonomen halben Stunde“, wie die bei annähernd allen Aktivitäten der lokalen BesetzerInnenszene mit einberechnete Wartezeit auf jene, die sich verspäten, genannt wird, wird um Ruhe gebeten für das „pratje“ (Ansprache). Entweder eine Person der besetzenden Gruppe oder ein Mitglied der „Kraakspreekuur“ (BesetzerInnensprechstunde – KSU) erklärt darin, wie, was, und wo an diesem Sonntag besetzt werden wird. Wie die meisten „pratjes“ endet auch dieses mit den Sätzen: „Beschützt die BrecherInnen und lasst eure Ausweise hier!“
Nach einem kurzen Spaziergang gehen die BrecherInnen ans Werk. Da das gewaltsame Öffnen der Tür den einzig illegalen Aspekt einer Besetzungsaktion darstellt, bildet der Rest der Gruppe einen Halbkreis um die BrecherInnen, als Schutz vor Kameras und der Polizei. Mit Zange, Schraubenzieher, Flipperkarte, Motorflex, eigens angefertigten hydraulischen Geräten und natürlich dem Brecheisen werden beinahe jeden Sonntag Türen aller Art gebrochen. Die Tür dieses Sonntags verlangt nach Geduld und starken Nerven. Eine massive Tür mit gutem Schloss und dazu der Zeitdruck, der mit Besetzungen im Zentrum der Stadt einhergeht, sorgen für Stress. Sollte die Tür beim Eintreffen der Polizei noch nicht geöffnet sein, versuchen sich die BesetzerInnen entweder so schnell wie möglich als geschlossene Gruppe vom Tatort zu entfernen oder, sollte es dazu bereits zu spät sein, zumindest den BrecherInnen die Flucht zu ermöglichen.
Die Tür geht auf, die Menschen jubeln, Barrikadenmaterial wird ins Gebäude getragen und, unglaublich aber wahr, die Polizei wird gerufen. Vor dem Eintreffen ebendieser müssen ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl, das so genannte „Kraakset“, in jedes Stockwerk geschafft werden. Das „Kraakset“ (Besetzungsset) verschafft nach dem Spruch des Höchstgerichts von 1914 den neuen BewohnerInnen Hausfrieden. Gemäß dem Hausfrieden gilt der Schutz eher der Nutzung eines Gebäudes als dem Gebäude selbst – somit befinden sich die BesetzerInnen legal im Haus. Der Großteil der Gruppe verharrt vor der Tür, während eine kleine Gruppe im Inneren barrikadiert. Die „Woordvoerder“ (Wortführer) lösen sich von der Gruppe. Sie begrüßen die eintreffenden PolizistInnen mit Handschlag, legen diesen den Grundbuchauszug mit Namen und Adresse der BesitzerInnen vor und geben eine kleine Einführung zur Geschichte des Hauses. Alles Teil eines Rituals, welches sich meist deckungsgleich wiederholt. Trotzdem heißt es, immer auf alles vorbereitet zu sein, da es auch vorkommt, dass die Polizei ohne Vorwarnung ihre Knüppel sprechen lässt oder die Wortführer ganz einfach verhaftet.
Zwei PolizistInnen wird es gestattet in Begleitung der Wortführer das Haus zu betreten um dessen Leerstand zu konstatieren. Der „Chef vom Dienst“ an diesem Sonntag hat offensichtlich keinerlei Interesse an einer Eskalation des Geschehens, macht den einen oder anderen Scherz und verlässt den Schauplatz mit einem Lächeln auf den Lippen. Nun ist es offiziell. Das Haus ist besetzt. Weder Polizei noch EigentümerIn dürfen das Gebäude betreten. Die ersten Bierkisten erreichen das Geschehen. Wohlwollende sowie wütende Rufe von PassantInnen hallen über den Platz. Über die Nutzung des Gebäudes, abgesehen von Wohnraum, ist sich die sechsköpfige Gruppe noch nicht einig. Potential bietet der große Raum jedenfalls genug.
Vorbereitung
Eine Aktion, wie die oben beschriebene, benötigt im Normalfall eine in etwa einmonatige Vorbereitungszeit. Es beginnt mit entspannten Spaziergängen durch den gewünschten Stadtteil. Jedes leer oder unbenutzt erscheinende Haus wird notiert. Wirkt das Haus am nächsten Abend nach wie vor unbenutzt, wird ein Zündholz zwischen Tür und Angel geklemmt. Im Regelfall ist der nächste Schritt der Gang zur lokalen KSU. In Amsterdam existieren vier KSUs. Sie tagen in jedem Stadtteil einmal wöchentlich. Ende der 1960er-Jahre gründete ein Teil der 1967 aufgelösten „provos“ das „woonburoe de kraker“ und setzte damit den Grundstein für organisiertes Besetzen sowie für Organisationen wie die KSU. Die KSU bietet die Möglichkeit, Häuser zu reservieren, um zu vermeiden, dass mehrere Gruppen an denselben Adressen arbeiten. Sie bieten Unterstützung beim Sammeln von Hintergrundinformationen über Häuser und BesitzerInnen, beim Mobilisieren, bei der Anschaffung eines/r Anwaltes/Anwältin, bei der Kommunikation mit Polizei und Gericht, beim Öffnen von Türen sowie bei allerlei Problemen, welche nach der Aktion entstehen können. Sie erarbeitet aktuelle Mobilisierungslisten und aktualisiert Alarmlisten.
1994 wurde der Artikel 429 dem niederländischen Strafgesetzbuch hinzugefügt. Dieser Artikel besagt, dass ein Haus mindestens ein Jahr leer stehen muss, bevor es legal besetzt werden kann. Theoretisch dreht sich dieser Artikel 429 um die strukturelle Nutzung eines Gebäudes, während es in der Praxis meist schon ausreichend ist, wenn die HauseigentümerInnen eine Rechnung für eine gewechselte Glühbirne vorlegen können, um den Staatsanwalt bzw. die Staatsanwältin dazu zu bewegen, das Haus zur Räumung freizugeben. Durch diesen Artikel ist es von Belang, vor der Besetzung herauszufinden, wie lange das Haus bereits leer steht. Einige Gruppen besetzen in diesem Sinne ganz bewusst illegal, um der Willkür bei der Handhabung dieses Gesetzes entgegenzutreten. Ein wichtiger Teil der Vorbereitung ist es, sich über die Pläne des Hauseigentümers mit dem Gebäude zu informieren. Sollte ein Haus legal besetzt werden, muss der/die EigentümerIn einen zivilrechtlichen Gerichtsprozess gegen die BesetzerInnen einleiten, in welchem er/sie die zukünftige Nutzung des Hauses beweisen muss. Dies kann bei baufälligen Gebäuden durch bewilligte Baupläne plus eines Vertrages mit einem Bauunternehmen geschehen. Oder im Falle von gut instand gehaltenen Häusern durch einen Vertrag mit einem/einer neuen MieterIn.
Räumung
Seit den 1990ern passieren Räumungen in Amsterdam so gut wie immer im Rahmen von Räumungswellen. Alle drei bis vier Monate werden fünf bis zehn zur Räumung freigegebene Häuser mit 100 - 250 PolizistInnen der ME (Mobile Einheit), Wasserwerfern, Verhaftungsteams und der berüchtigten BRATRA (Brech- und Tränengaseinheit) geräumt. Die Häuser einzeln zu räumen wäre in Anbetracht des zu erwartenden Widerstandes ein zu hoher finanzieller Aufwand.
Im Gegensatz zu den 1980ern werden bei der Verteidigung der Häuser nun wesentlich öfter Farbbomben anstelle von Steinen verwendet. Gegen private Räumungsvorhaben des Eigentümers hilft präventive Einschüchterung. Im Inneren des „Vrankrijks“ beispielsweise schmückt ein eingerahmter Brief des Eigentümers an die HausbewohnerInnen die Wand, in welchem er das Gebäude außerordentlich preiswert zum Kauf anbietet. Grund dafür war ein Brandanschlag auf sein Bürogebäude und Angriffe auf weitere seiner Besitztümer.
Wie alles anfing
Besetzen kann als organisierte, politische Praxis in den Niederlanden ca. 40 Jahre zurückverfolgt werden. Die fehlenden Bauaktivitäten als Folge des zweiten Weltkrieges führten zu einer akuten Wohnungsnot. 1965 entstand eine Gruppe mit dem Namen „provos“. StudentInnen, Intellektuelle und KünstlerInnen organisierten sich in dieser Gruppe, um mit dem Mittel der Provokation Autoritäten und die konservative Ordnung anzugreifen. Nach der Selbstauflösung der „provos“ 1967 setzte sich ein Teil der Gruppe explizit die Politisierung der BesetzerInnenbewegung zum Ziel. Sie gründeten das „woonbureau de kraker“, eine BesetzerInnen-Servicestelle, welche sich in erster Linie damit befasste, Aktionsbesetzungen zu organisieren. Nach mehreren erfolgreichen Aktionen erlebte die Gruppe einen massiven Ansturm von Menschen, die Hilfe beim Besetzen von Häusern benötigten. Das gab den Anstoß, das erste BesetzerInnenhandbuch zu verfassen. Nach der Selbstauflösung der Gruppe Ende der 1960er Jahre entstand aus der Asche der „provos“ die „Kabouter“-Bewegung. Neue Gruppen übernahmen die vom „woonbureau de kraker“ gegründeten BesetzerInnenintiativen und Besetzen wurde zum politischen Akt.
Zur selben Zeit plante die Stadtregierung die Errichtung eines „central businis districts“ in der Nieuwemarkt Nachbarschaft. Ein Großteil der Gebäude sollte einem großräumig ausgebauten U-Bahnnetz sowie einer vierspurigen Autobahn weichen. Um dies zu verhindern wurde beinahe die gesamte Nachbarschaft besetzt. In diesem Kampf formten sich Organisationsstrukturen, die die BesetzerInnenbewegung bis zum heutigen Tag prägen. Diese entstehenden Strukturen machten es der Stadtregierung unmöglich, ihre Stadterneuerungspläne umzusetzen.
Bis Mitte der 1970er Jahre setzte sich die BesetzerInnenbewegung hauptsächlich aus StudentInnen und marginalisierten Jugendlichen zusammen. Die globale Ölkrise 1973 und die Krise der Industrien in den entwickelten Ländern führten zu ökonomischer Depression und Arbeitslosigkeit. Zur gleichen Zeit kam es durch zunehmende spekulative Aktivitäten der Immobilienbranche zu enormem Leerstand von Wohnraum. Anfang der 1980er Jahre wuchs die BesetzerInnenbewegung auf ca. 20.000 Menschen an. 1971 urteilte das Höchstgericht, dass das Besetzen eines unbenutzten Gebäudes keine strafbare Handlung ist. 1986 wurde das erste Leerstandsgesetz verabschiedet. Artikel 490 wurde dem Strafgesetzbuch hinzugefügt, welcher besagte, dass ein Haus mindestens ein halbes Jahr leer stehen muss, um legal besetzt werden zu können. Schon damals entstanden die ersten „Antikraakorganisationen“, die anhand dieses neuen Artikels die Chance sahen, mit der Vermittlung zwischen Wohnungssuchenden und Spekulanten Geld zu verdienen. Mit der Erweiterung des Leerstandgesetzes 1993 gewannen diese Organisationen enorm an Boden. Mittlerweile ist die BesetzerInnenbewegung auf einige hundert Menschen geschrumpft, während sich schätzungsweise an die 10.000 Menschen für prekäres Mieten im Sinne von „antikraak“ entschieden haben. Der Fakt, dass ganze Gebäudekomplexe mit lediglich einem „antikraak“ besetzt werden, beweist, dass „antikraak“ in erster Linie gegen BesetzerInnenaktivitäten und nicht gegen Wohnungsnot konzipiert ist.
Neben Hausbesetzungen sind Antifaschismus, der Kampf gegen Abschiebung und gegen die 2005 verabschiedete Ausweispflicht im Moment Hauptthemen der Szene. Die niederländische BesetzerInnenszene lässt sich jedoch in keine politische Kategorie zwängen. AnarchistInnen, KommunistInnen, ReformistInnen, Punx und einfach nur Wohnungssuchende arbeiten zusammen an einer kollektiven Lösung für ein kollektives Problem.
Literatur
Agentur Bilwet (1992): Bewegungslehre (Einzig erhältlich im Internationalen Institut fuer soziale Geschichte, Amsterdam)
K. Ploeg aktiver 429 Besetzer, Arbeitsloser aus Überzeugung, Mitglied einer Kraakspreekuur