World Social Forum, 2. Sendung

"Diese Menschen verstehen sich als ProtagonistInnen, als handelnde Subjekte, die, geprägt von Ungehorsam und Verantwortung, sich mit der Kraft ihrer Körper und der Hitze ihrer Herzen im Kampf für soziale Gerechtigkeit und Freiheit engagieren."

Liebe Rubia,

dein Brief hat mir große Freude bereitet! Wie du weißt, schätze ich diese Art der Kommunikation sehr. Leider bekomme ich, und wahrscheinlich weltweit eine enorme Anzahl von Menschen, kaum mehr Briefe ... Und bezüglich deiner Entscheidung, den Brief in der letzten KUPF-Zeitung zu veröffentlichen: die Idee hat mir so gut gefallen, dass ich mich entschieden habe, meine Antwort ebenfalls publik zu machen.
Es gab die Freude über deinen Brief, und ich habe mit großem Interesse gelesen, wie du das World Social Forum erlebt und wahrgenommen hast. Es gab jedoch auch Erstaunen, besonders über einen gewissen Ton von Naivität, über deine romantisierte Annäherung, über die von dir wiedergegebene Idealisierung der kämpferischen AktivistInnen: "Diese Menschen verstehen sich als ProtagonistInnen, als handelnde Subjekte, die, geprägt von Ungehorsam und Verantwortung, sich mit der Kraft ihrer Körper und der Hitze ihrer Herzen im Kampf für soziale Gerechtigkeit und Freiheit engagieren." Ja, ich weiß, dass du mich an einer anderen Stelle - aus Verzweiflung am unkritischen Verhalten dieser Menschen - fragst, um welches Paradox es sich hier handelte. Aber ich muss dir, meine Liebe, leider antworten, dass ich in der von dir beschriebenen Situation kein Paradox sehe. Das einzige für mich erkennbare Paradox befindet sich in deinem eigenen Text. Auch ich verabscheue es, mit Menschen zu tun zu haben, "deren utopischer Horizont aus Samstagseinkaufsausflügen besteht", und freue mich auf Begegnungen mit Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Freiheit engagieren, die von Utopie bewegt an die Möglichkeit einer anderen Welt glauben und sich dafür einsetzen. Ich bin jedoch darüber erstaunt, dass du nicht zwischen der anwesenden Menge und dem Diskurs über sie differenzieren kannst. Ich will dir damit auf keinen Fall vorwerfen, du hättest das Ereignis als solches nicht kritisch beobachtet. Ich erinnere mich an deine Kritik über den aufsehenerregenden Charakter mancher Veranstaltungen, welche den Prominenten Projektionsräume angeboten und den "einfachen" TeilnehmerInnen die Rolle von begeisterten wie passiven KonsumentInnen aufgezwungen haben. Besonders beeindruckt war ich über die Beschreibung des offiziellen Kulturprogramms. Es ist tatsächlich absurd, dass im Rahmen solcher Bewegungen derartige sexistische Programme durchgeführt werden!

Trotzdem bildet das World Social Forum, wie du geschrieben hast, zweifelsohne ein wichtiges Ereignis zur Vernetzung und zum Austausch zwischen VertreterInnen der sozialen Bewegungen. Ich bin außerdem wie du davon überzeugt, dass der vom Forum verkörperte Prozess sinnvoll und notwendig ist und dass er unterstützt und mitgestaltet werden soll. Ich versuche jedoch, den Prozess nüchtern zu beobachten und, so sehr ich mich von Enthusiasmus mitreißen lassen möchte, verpflichte ich mich einer distanzierten und kritischen Haltung. Distanz bedeutet in diesem Zusammenhang auf keinen Fall, nicht mitzuwirken! Ich finde es darum sehr wichtig, dass auch Organisationen aus dem Kulturbereich an dem Prozess aktiv teilnehmen! Aber wir dürfen keine Minute außer Acht lassen, dass der Prozess von Kräften mitgetragen wird, die uns keine unvorsichtige Haltung erlauben. Hast du auch davon gehört, dass es dieses Jahr in Brasilien eine Krise zwischen großen NGOs und VertreterInnen aus Organisationen und Gruppen aus den sozialen Bewegungen gab? Angeblich war diese Krise der Grund für das verspätete Erscheinen des Programmheftes, wo die Informationen zu den Workshops und Seminaren, die von den Organisationen angeboten werden sollten, bekanntgegeben werden. Der Grund für den Konflikt sei der enorme Raum- und Terminanspruch seitens der großen NGOs für die Realisierung von Veranstaltungen gewesen und die Reduzierung der Aktionsräume für "kleinere" Gruppen. Ich kann mir vorstellen, dass du es nicht erzählt hast, weil du es nicht beweisen konntest, und du wirst dich fragen, woher ich diese Information habe. Reine mündliche Überlieferung, meine Liebe! Beweise habe ich nicht, die Krise wurde erwartungsgemäß nicht veröffentlicht!

Übrigens, hast du die Artikel zum Austrian Social Forum im MALMOE von Mai gelesen? Ich habe mich an einen früheren Brief von dir erinnert, in welchem du dich über die Rolle der Sozialpartner und insbesondere die der Gewerkschaften bei der rassistischen Gesetzgebung zur Regulierung des Zuganges von MigrantInnen zum österreichischen Arbeitsmarkt geäußert hast. Eigentlich ist das Verb "äußern" ein Euphemismus... und ich konnte und kann deine Aufregung nachvollziehen. Aber zurück zu den Texten in MALMOE: Hier wird seitens des Schriftstellers Obiora Ofoedu u.a. vor der Gefahr gewarnt, dass die größeren Organisationen eine dominante Rolle übernehmen... Und im Text der Volxtheaterkarawane ist auch von den Bedenken über den reformistischen Charakter der Foren und über die Tendenz zu hierarchischen Organisationsformen zu lesen. Auch die Beteiligung von breiteren gewerkschaftlichen Kreisen beschreiben sie als problematisch, denn wie wir wissen, spielte und spielt der ÖGB eine wesentliche Rolle bei der Etablierung einer rassistischen Arbeitsmarktpolitik in Österreich. In Anlehnung an eine deiner Formulierungen erlaube ich mir eine Variation: never mind the austrian patriots! Ich habe das Programm des Austrian Social Forum gelesen und den Eindruck bekommen, dass sie im Forum nicht ungestört promenieren werden.

Auf der Homepage von World Social Forum wird angekündigt, dass im Mai in Rio de Janeiro ein Seminar zur Systematisierung des nächsten Forums realisiert wird. Neben der Evaluierung der durchgeführten Systematisierung und Vermittlung von Ergebnissen, Vorschlägen, Erfahrungen etc. wird auch das Ziel verfolgt, die grundlegende Arbeitsmethode im Rahmen des Forums zu reflektieren. Es wäre interessant, die Ergebnisse dieses Seminars auch in Österreich bekannt zu machen. Falls du meine Hilfe als Übersetzerin benötigst, stehe ich gern zur Verfügung.

Liebe Grüße,
G.


Rubia Salgado ist Vorstandsmitglied der IG Kultur Österreich und nahm als deren Delegierte am 3. World Social Forum teil, das von 23. bis 28. Jänner in Porto Alegre / Brasilien stattgefunden hat. Zu den im Brief erwähnten Artikeln vgl. www.kupf.at und www.malmoe.org