Aus der Praxis  im Dissens 

Fragmente aus Gesprächen mit Rubia Salgado,
der Autorin des Buchs „Aus der Praxis im Dissens“.

Dissenz politische Praxis

Andrea Hummer— Das Buch versammelt Texte aus den letzten 20 Jahren. In dieser Zeit hat sich vieles verändert, auch in Bezug auf Rassismus und Antirassismus. Wie schätzt du diese Veränderungen ein? 

Rubia Salgado—Eklatant ist das, was sich nicht verändert hat. Eklatant ist zu sehen, dass der Rassismus nach wie vor Platz hat und möglich ist in einer Dimension, die zwar nicht neu ist, aber stetig an Intensität zunimmt. Was beunruhigt, ist, dass es eine Menge Kräfte gibt, die antirassistisch arbeiten, dass sich die Situation insgesamt aber nicht sehr verändert. Dass die Gesetzgebung restriktiver wird. Es ist in Österreich einiges passiert. Es sind Entwicklungen, die sehr wichtig sind. Vor allem seit 2000, seit der schwarz-blauen Regierungszeit, hat sich eine Akzentuierung im antirassistischen Sinn entwickelt. Aber gleichzeitig gibt es eine rassistische Kontinuität, auch im Zusammenhang mit der NS-Zeit, die hier zu beobachten ist. 

Andrea Hummer— Es gibt in deinem Buch zwei wiederkehrende Motive: die Äffin und die Anthropophagie. Worauf verweisen diese Motive, und wie hängen sie zusammen? 

Rubia Salgado—Das Konzept der Anthropophagie ist in Lateinamerika, aber vor allem in Brasilien sehr sinnstiftend. Es ermöglicht eine Haltung, ein Denken gegenüber dominanten Kulturen, gegenüber Kolonialismus, gegenüber Neokolonialismus, gegenüber Imperialismus. Die Anthropophagie, das Fressen von Menschen als eine Widerstandsstrategie der Kolonisierten. 

Wir haben hier in Österreich das Konzept nochmals gelesen und sind immer noch dabei, das Konzept als Migrantin – von Europa aus – zu lesen und noch einmal die Westeuropäer_innen zu adressieren. Das andere Motiv – die Äffin –, das in einem sehr engen Naheverhältnis zum ersten Motiv steht, ist inspiriert von der Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ von Kafka, eine Geschichte über einen Affen, der zum Menschen geworden ist. Auch hier wollten wir eine Parallele zur Situation der Migrant_in in Westeuropa erstellen. Der Affe als Metapher für die von den Europäer_innen als Barbaren betrachteten Menschen. Beide Motive sind sehr präsent im Text und durchkreuzen das Buch. 

Andrea Hummer— Von wem sprichst du, wenn du von Migrant_innen sprichst? 


Rubia Salgado—Grundsätzlich haben wir den Ansatz, so wenig wie möglich über „die Migrant_innen“ zu sprechen und so viel wie möglich über die Professionellen, die im Feld arbeiten. Das ist der Versuch, so wenig Zuschreibungen wie möglich zu machen. Wenn wir in maiz über Migrant_innen sprechen, dann sprechen wir über eine strategische Identität und nicht aus einem essentialistischen Verständnis heraus. Wir konstruieren die Identität, von der aus wir sprechen – es ist also eine Frage der Selbstdefinition. Mir geht es dabei weniger um eine genaue Definition, wer Migrant_in ist. Uns geht es darum, ausgehend von dieser Identität, Forderungen und Antworten auf Herausforderungen in die Welt zu bringen. 

Die Herkunft spielt natürlich insofern eine Rolle, weil – je nachdem, welchen Reisepass man besitzt – der Zugang zu Ressourcen und Rechten markiert ist. Aber auch, wenn man die „richtige“ Staatsbürger_innenschaft vorweisen kann, zählt die Herkunft, die Sprache, die Klasse, die formale Bildung, Gender usw. Es gibt eine Reihe von Aspekten und Kategorien, die zu berücksichtigen sind. Und je nach Situation sind sie unterschiedlich verschränkt. Aber ich würde nicht sagen, dass in maiz ausschließlich die Herkunft gesehen wird. Es kann sein, dass es manchmal vordergründig behandelt wird, weil es auch tatsächlich vordergründige Effekte im Leben der Menschen hier hat. Die Menschen, mit denen wir in maiz arbeiten, verfügen kaum über formale Bildung oder können sie zumindest nicht mehr beweisen. Auch gibt es viele, deren Ausbildung nicht anerkannt wird. Die Priorität in maiz ist die Arbeit mit Frauen, die über wenig formale Bildung verfügen. Wir bieten seit einigen Jahren Basiskurse für Frauen an – Kurse, in denen es um Deutsch, Rechnen, Englisch, Computerkenntnisse geht. Das ist eine bewusste Entscheidung von maiz für eine Gruppe, die in den Augen der Mehrheitsgesellschaft nichts leisten kann. 


Andrea Hummer— Wie groß ist die Gefahr, dass du ungewollt in eine repräsentative Position kommst? 

Rubia Salgado— maiz zu repräsentieren, ist Teil meines Jobs. Was ich nicht machen würde, ist im Namen der Migrant_ innen zu sprechen. Wir sagen schon immer wieder „Wir wehren uns“ oder „Wir bleiben“. Das ist in bestimmten Kontexten, bei Demos, bei Gesprächen mit Politiker_innen, notwendig. Aber: Ich repräsentiere keine Migrant_innen. 

Natürlich ist die Gefahr, als Alibimigrantin eingeladen zu werden, latent vorhanden. Aber da ist es für mich wichtig, diese Verhältnisse zu benennen. Und danach, wenn das problematisiert ist, können wir wieder auf einer anderen Ebene weiterreden und zusammenarbeiten. Am schwierigsten ist es, damit umzugehen, wenn das Gegenüber diese Problematisierung persönlich nimmt und beleidigt reagiert. Die Unfähigkeit, zwischen dem Persönlichen und der öffentlich-politischen Ebene zu unterscheiden, ist Zeichen für mangelnde Reflexion, Zeichen für eine Unfähigkeit, auf einer Metaebene zu denken und dementsprechend zu handeln. In solchen Situationen habe ich wenig Hoffnung auf eine sinnvolle und konstruktive Zusammenarbeit. 

Andrea Hummer— Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht mehrsprachig – auch auf Deutsch. Ob das Interviews oder Artikel sind für Kulturzeitschriften, Texte, die aus einem wissenschaftlichen Kontext stammen und sehr literarische, persönliche Texte – es ist spannend, dass du so viele Sprachen beherrscht. 

Rubia Salgado—Ich bewege mich absichtlich zwischen unterschiedlichen Gattungen und Registern. Also zum Beispiel
der Text für die Biennale in Venedig ist sehr literarisch geschrie-
ben. Andere Texte sind eher journalistisch verfasst. Auch die Themen sind sehr verschieden: Kulturpolitik, Migrationspolitik, Bildungspolitik, Sprachpolitik. Manchmal ist ein bestimmtes 


Vorwissen hilfreich, weil sich der Text ursprünglich an ein Fachpublikum gerichtet hat. Aber die Zusammenstellung der Texte macht sie auf verschiedenen Ebenen lesbar, und sie fügen sich zu einem sehr zugänglichen Gesamtbild. 

Andrea Hummer— Du eröffnest dein Buch mit No pasarán und Eu passarinho. Was willst du damit sagen? 

Rubia Salgado—No pasarán ist ein antifaschistischer Spruch aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und bedeutet „Sie werden nicht durchkommen“, also Widerstand. Eu passarinho, „Ich, kleiner Vogel“ – angelehnt an ein Gedicht von Mario Quintana – bedeutet hier Verletzlichkeit. Die Eröffnung markiert schon ein Verhältnis zwischen Verletzlichkeit und Widerstand. Ja, ich als Migrantin, ich als Mitarbeiterin und Mitgründerin von maiz bin in einer gesellschaftlichen Position, die sehr stark mit Verletzlichkeit verbunden ist. Der Sprung ist dann der Widerstand, ohne aber die Verletzlichkeit zu leugnen. 

Andrea Hummer— Es fällt auf, dass du manchmal Wortschöpfungen verwendest mit dem Hinweis, dass du die deutsche Sprache bereichern willst. Wie meinst du das, und wie ist dein Verhältnis zur deutschen Sprache? 

Ich sage das immer wieder mit einem Lächeln, dass Migration eine Bereicherung für die deutsche Sprache ist. Das verweist auf die Logik der Abwägung von Kosten und Nutzen im Zusammenhang mit Migration. Das ist eine sehr gefährliche Logik, ein rassistischer Diskurs. 

Rubia Salgado—Aber es ist klar, ich interveniere in die Sprache, ich schaffe Neologismen, ich greife in die Syntax ein. Oft mache ich die Erfahrung, dass diese Irritationen nicht akzeptiert werden, dass sie weglektoriert werden, dass die Texte diszipliniert werden. Es ist manchmal ein mühsamer Kampf, das zu verhindern und mich durchzusetzen. Das war auch eine gute Erfahrung bei diesem Buch, dass das nicht nur nicht versucht, sondern sehr oft sofort verstanden wurde, wo es Absicht ist. Es gibt kaum zufällige Wörter in den Texten. 

Für mich ist es wichtig, die deutsche Sprache als hegemoniale Sprache zu adressieren und mich damit zu beschäftigen –, das gilt genauso für meine Erstsprache in ihrer hegemonialen Dimension. Die deutsche Sprache ist Teil meines Alltags, in dieser Sprache wurden mir über die Jahre viele Narben und Wunden zugefügt, die nie heilen werden. Auch das prägt mein Verhältnis zu dieser Sprache. Es ist die Sprache meiner Arbeit. Im Unterricht, mit Kolleginnen, in anderen Gremien, an der Universität, in Sitzungen, meine Arbeit hat auch viel zu tun mit Theorie lesen, über Theorie nachdenken, Theoretisches schreiben. Es ist ein bestimmtes Register, das sich auch sehr verankert hat in meinem Sein. Aber immer mit dieser Haltung, Normen zu hinterfragen. Die Norm ist zu hinterfragen, und das machen wir in maiz die ganze Zeit. Der Gebrauch macht die Norm. Norm entsteht im sprachlichen Kontext aus dem Gebrauch. Die deutsche Sprache verändert sich. Manchmal verdeutliche ich das absichtlich, und manchmal finde ich es einfach schöner so. 

Natürlich hat das auch etwas mit meiner Persönlichkeit und mit meiner gesellschaftlichen Positionierung zu tun – einer queer-Positionierung, auch beim Schreiben – es ist ein queer Schreiben, ein Schreiben, das Kategorien durcheinanderbringt. Es ist zwar hier verankert, aber ich habe keine Lust es wiederzugeben – aber auch nicht auf Portugiesisch ... 

Andrea Hummer— Einerseits sprichst du davon, dass maiz versucht, auch im Feld des Symbolischen hegemonial zu werden. Andererseits sagst du in einem Interview im Buch: Wir wollen nicht im Hegemonialen ankommen. Wie kannst du diesen Widerspruch erklären? 

Rubia Salgado—Hier bin ich wahrscheinlich beeinflusst von der Idee von der leeren Mitte, die mich eine Zeit lang sehr beschäftigt und fasziniert hat: Dabei geht es um Spannung. Es wird immer Machtkämpfe geben, es wird immer die Notwendigkeit von Unruhe bestehen. Die Unruhe, nie einverstanden zu sein. Immer daran festzuhalten, dass Dissens notwendig ist, dass Hinterfragen notwendig ist. Und nie anzukommen, nie zu sagen, jetzt haben wir die Welt erschaffen, so, wie wir sie wollen. Sondern uns selbst immer zu hinterfragen und uns auch zu widersprechen und auf diese Weise in dieser Spannung zu bleiben. 

Andrea Hummer— Wo siehst du Räume für gegenhegemoniale politische Artikulationen? 

Rubia Salgado—Es gibt viele Möglichkeiten, viele interessante Räume des Miteinander-Denkens. So schlimm schaut die Welt nicht aus, aber es ist dramatisch, was in Westeuropa und gerade auch in Österreich passiert. Es ist dramatisch, dass Räume der politischen Handlungen in diesem Land fehlen. 2000 war so ein Schub an Artikulation politischer Positionen. Gegen die schwarz-blaue Regierung. Es fehlen kritische politische Räume, radikal-demokratische Räume in Österreich. Ich spreche viel mit meinem Umfeld, dass wir jetzt etwas machen müssen. Es kann nicht sein, dass wir mit dem Krieg in Syrien und dieser Erhöhung der Anzahl von Flüchtlingen kaum jenseits des Karitativen tätig sind. Das Karitative war und ist absolut wichtig. Aber verschränkt mit dem Karitativen muss ein politischer Raum geschaffen werden – und auch das Karitative muss politisiert werden. Es ist ein extrem wichtiger historischer Moment – wie kann sich die Reaktion auf diesen Moment auf das Karitative beschränken? Es ist ein privilegierter Moment für Aktion, für politische Artikulation, für Mobilisierung. Es braucht ein Miteinander, ein Verschränken der unterschiedlichen Felder. 

Der Tod im Mittelmeer dauert schon lang. Wir hatten jetzt die Wiederholung vom Lichtermeer. Man geht zum Lichtermeer, und das Leben geht weiter. Und die Menschen sterben weiter im Mittelmeer. Interessant wäre es, einen Raum zu eröffnen, eine Konjunkturanalyse zu machen, strategische Pläne zu entwerfen, verschränkte und ergänzende Arbeit zu leisten, Aktionen zu planen, Widerstand zu leisten, Alternativen zu entwerfen und umzusetzen. 

Andrea Hummer— Siehst du diese Möglichkeit in der Parteipolitik? 

Rubia Salgado—Das ist tatsächlich ein schwieriges Feld, Gewerkschaft auch. Geht man in die Institutionen oder nicht und warum? Überlassen wir das Feld den anderen? Ich war auch bis vor kurzem sehr überzeugt, mich nie in die Parteipolitik einzumischen. Inzwischen frage ich mich, ob das tatsächlich die klügste Position ist ... 

Andrea Hummer— Nicht nur die Welt um dich herum hat sich verändert, sondern auch du. Wie war es für dich, dich wieder so intensiv mit deinen eigenen Texten, deiner verschriftlichten Geschichte auseinanderzusetzen? 

Rubia Salgado—Ich würde heute viele Texte anders schreiben. Heute bin ich anders und woanders. Und gerade deshalb ist es auch spannend, diese Texte jetzt zu veröffentlichen. Man kann sehr gut eine Entwicklung beobachten und nachvollziehen. Eine Entwicklung, die sehr stark mit der Arbeit von maiz zu tun hat, einer Organisation, die in dieser Form einzigartig ist. Eine Organisation, die immer bedroht ist und heute noch mehr. Diese ständige Bedrohung und die Antworten auf diese Bedrohung, die Strategien und die methodologische Auseinandersetzung werden sichtbar. Das Buch ist Geschichte und Gegenwart gleichzeitig. Dieses Buch dokumentiert zwar nicht direkt, man muss im Lesen versuchen, die Verknüpfungen zu erstellen. Aber es ist eigentlich eine Dokumentation. 
Mir war es dabei auch wichtig, eine spezielle Form des Ausdrucks in die Welt zu setzen. Ich glaube, dass das Buch inspirierend sein kann und auch etwas in der Welt markieren kann. Das ist zumindest meine Hoffnung.