“Build and they will come”. Gefängnis und kulturelle Produktion

Wird eine für das staatliche Gewaltmonopol so zentrale Einrichtung wie das Gefängnis zur Privatisierung frei gegeben, lässt sich daran auch die Frage nach dem Einflussverlust des Staates erläutern. Ist das Gefängnis immer noch ein – mit einem Begriff Louis Althussers beschriebener – “ideologischer Staatsapparat” und damit nach wie vor gesellschaftskonstituierend? Oder ist es als privatisierte Einrichtung viel mehr eine unter vielen Institutionen gegenwärtiger Gouvernementalität?

Der Berliner Filmemacher Harun Farocki hat mit seiner Videoinstallation “Ich glaubte Gefangene zu sehen” (2000) einen zentralen Gedanken Michel Foucaults veranschaulicht. Farocki überblendet Ausschnitte aus Videos, die Überwachungskameras in kalifornischen Hochsicherheitsgefängnissen aufgenommen haben, mit computersimulierten Szenen von Menschen, die im Supermarkt einkaufen. In der 1975 erschienenen Studie “Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses” verknüpft Foucault eine historische Betrachtung mit zeitdiagnostischen Aussagen. Ausführlich wird der Übergang von der öffentlichen Marter zu Zeiten der Renaissance über die Bestrafung in der Klassik hin zur Disziplinarstrafe in der Moderne beschrieben. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Foucault aber nicht eine Geschichte der Repression, sondern sein Blick richtet sich auf die produktiven Aspekte des Strafsystems. Die Mikroökonomie der Subjektivitätsproduktion ist dabei nur ein Aspekt, der mit der Einrichtung von Gefängnissen einhergeht. Ihre Eingebundenheit in die Makroökonomie des Kapitalismus hingegen scheint erst mit der gegenwärtigen Privatisierung der Gefängnisse ganz deutlich zu werden. Die Wiener Künstler Martin Krenn und Oliver Ressler heben mit ihrem Projekt “European Corrections Corporation” (2003) diese Form der Produktivitätssteigerung hervor. Die Videoinstallation Farockis hingegen wird dem Gedanken Foucaults zunächst vor allem insofern gerecht, als sie die Ausnahmesituation Knast mit dem Alltagsgeschehen Einkauf kurzschließt und fragt, wie wir als Subjekte konstituiert werden. Anhand beider Arbeiten lässt sich zeigen, welche zeitdiagnostische Relevanz den Gefängnissen in Zeiten ihrer Privatisierung zukommt.

Wird eine für das staatliche Gewaltmonopol so zentrale Einrichtung wie das Gefängnis zur Privatisierung frei gegeben, lässt sich daran auch die Frage nach dem Einflussverlust des Staates erläutern. Ist das Gefängnis immer noch ein – mit einem Begriff Louis Althussers beschriebener – “ideologischer Staatsapparat” und damit nach wie vor gesellschaftskonstituierend? Oder ist es als privatisierte Einrichtung viel mehr eine unter vielen Institutionen gegenwärtiger Gouvernementalität? War das Gefängnis für die Disziplinargesellschaft ein wesentliches Modell, welche Funktion kann ihm dann unter Bedingungen jenes zeitdiagnostischen Labels zugewiesen werden, das heute eher den Realitäten entspricht, dem der Kontrollgesellschaft?

Martin Krenn und Oliver Ressler thematisieren in ihrem Projekt “European Corrections Corporation” die Privatisierung der Gefängnisse. Sie platzieren in der Fußgängerzone der Innenstadt von Graz (und Wels und München) einen begehbaren Container, der von einer bedruckten Plane ummantelt ist. Darauf ist eine detaillierte, mit Texten kommentierte CAD-Grafik zu sehen, die die mögliche zukünftige Privatisierung und den Umbau der Strafanstalt Graz-Karlau (bzw. Wels bzw. München-Stadelheim) durch einen privatwirtschaftlichen Konzern visualisiert. “Wie reale Konzerne versucht EUCC (European Corrections Corporation), das Gefängnis als deterritorialisierten Produktionsort innerhalb der kapitalistischen Ökonomie zu nutzen und stellt ein Modell für die gewinnbringende Verwertung der Arbeitskraft der Gefangenen vor.” (Krenn/Ressler 2003). Im Inneren des von ihnen aufgestellten Containers lassen Krenn/Ressler per Videoprojektion den ehemaligen Gefangenen und britischen “Gefängnisaktivisten” Mark Barnsley zu Wort kommen. Zum einen vereindeutigen sie damit ihr inhaltliches Anliegen, zum anderen ist der freigelassene Ex-Gefangene im zellenhaften Container, platziert im öffentlichen Raum der Innenstadt, zugleich der Verweis auf die Wechselwirkungen zwischen Freiheit und Gefangenschaft, Regel und Abweichung, Ausnahmezustand und Alltag, Gefängnis und Gesellschaft. Diese waren auch Ausgangspunkt für Foucaults Überlegungen. Als gefaktes Marketingprojekt ist die Veranschaulichung, die der Container bietet, auch durchaus dazu angetan, die Überschneidungen von Disziplinar- und Kontrollregimen zu verdeutlichen. Richtet sich die Disziplinarmacht vor allem auf den einzelnen Körper, zielt die Technik der Kontrolle auf die Bevölkerung als ganze. Kontrollgesellschaft zeichnet sich also eher aus durch statistische Erfassung, Appelle an “gute Lebensführung” und deren Überprüfung, Selbstverantwortung, Aufzeichnen, Auswerten und Effizientermachen als durch die Verbindung von gesteigerter Tauglichkeit und vertiefter Unterwerfung individueller Körper, die die Disziplinargesellschaft kennzeichnet. (Was nicht heißt, dass deren Elemente nicht auch fortbestehen).

Nicht zuletzt durch das permanente Scheitern der offensichtlichen Absicht des Gefängnisses – der Besserung – stellt dessen eigentliche Funktion für Foucault gerade nicht das Strafen, Verhüten und Unterdrücken dar, sondern das Beobachten, Aufgliedern, Verteilen, Normalisieren, Differenzieren und Ordnen. Beim Wegfall des humanistischen Maßstabs jedoch, so meine These, nehmen Ruhig- und Abstellen, Verwahren, Ausbeuten und Abschrecken wieder wichtigere Funktionen ein. Verändert sich so einerseits die Beziehung der Anstalt zu ihren Insassen, bedeutet das andererseits auch eine Bedeutungsverschiebung in Bezug auf die Gesamtgesellschaft. Vom Modell, das der panoptische Gefängnisrundbau für die Ausbreitung der Machttechnik Disziplin war, wandelt sich das Gefängnis zur Option. Kontrolle als Machttechnik baut nicht auf verbindlichen Holismus, sondern auf abrufbare, eben optionale Differenzen. So kann das Gefängnis sowohl als unternehmerisches Vorbild für die Profitklitsche mit entrechteten ArbeiterInnen fungieren, als auch der kulturellen Markierung von Klassen- und Ethnizitätszugehörigkeiten dienen.

Besteht die Funktion des Gefängnisses in der Disziplinargesellschaft darin, das Wechselverhältnis von Nützlich- und Gefügigmachen am umfassendsten zu erfüllen, verändert sich seine Rolle nun. Inwiefern alte und neue Funktionen aber ineinander übergehen, lässt sich auch an der Arbeit Harun Farockis beschreiben. Farocki zeigt “Bilder aus dem Maximum Security Gefängnis in Corcoran, Kalifornien. Die Überwachungskamera zeigt einen tortenstückförmigen Ausschnitt, den betongedeckten Hof, auf dem die Gefangenen eine halbe Stunde am Tag verbringen können. Ein Häftling greift den anderen an, worauf die Unbeteiligten sich sogleich flach auf den Boden legen, die Arme über dem Kopf. Sie wissen, was jetzt kommt: der Wärter wird eine Warnung rufen und danach eine Gummimunition abfeuern. Hören die Häftlinge mit dem Kampf jetzt nicht auf, schießt der Wärter scharf. Die Bilder sind stumm, vom Schuß zieht der Pulverrauch durch das Bild.” (Farocki 2000).

Die Videokamera übernimmt die Funktion des Scharniers, sie macht den Schwenk zwischen der disziplinar- und der kontrollgesellschaftlichen Funktion des Gefängnisses möglich: Sie sieht nicht nur (wie der potenzielle Wächter im Panopticon), sondern sie zeichnet auch auf und macht Übertragung und Auswertung möglich. Für Farocki ist das Gefängnis daher auch weniger das Modell, nach dem die Gesellschaft eingerichtet ist, als vielmehr eine Art abschreckende Gegenwelt, in die kommt, wer sich nicht ordentlich (auf-)führt. Hier geht es kaum um Besserung, als viel mehr um statuierte Exempel nach dem Motto: Wer angesichts des wenigen archaischen Zwangs, den Gesellschaft heute noch ausübt, trotzdem im Gefängnis landet, der muss eben wieder mit anachronistischen Gewehrkugeln rechnen. Was vormals als Folge sozialer Problemlagen interpretiert wurde, wird nun – ganz im Sinne der neoliberalen Doktrin – wieder individualisiert und naturalisiert. Zeitgleich mit der Privatisierung der Gefängnisse wird also auch der sie einst begründende Humanismus entsorgt, der an das Verbesserbare glauben machte und an das Gute appellierte. Die heutige Produktion des Verbrechers schafft hier wieder den von Natur aus Bösen. Ökonomisch ausgebeutet werden kann er dennoch, bzw. um so schonungsloser, Farocki und Krenn/ Ressler widersprechen sich da also nicht.

Die mit der Privatisierung der Gefängnisse einher gehende Dynamik hat u.a. zur Folge, dass es mehr denn je zuvor ein Interesse an VerbrecherInnen gibt. Denn wenn sich mit dem Wegsperren von Menschen Geld verdienen lässt, muss es auch Menschen zum Einsperren geben, das heißt, sie müssen produziert werden. “Build and they will come” – mit dieser angebotsorientierten Leitlinie, wie sie kein neoliberales Lehrbuch prägnanter hätte formulieren können, zitieren Krenn/Ressler (2004, S.2) einen US-amerikanischen Gefängniskonzern. Dass sie kommen und wer kommt, ist nicht – wie die ApologetInnen des Marktradikalismus glauben machen wollen – ein Ergebnis des “freien Spiels der Marktkräfte”. Zum einen ist die Verhängung von Freiheitsstrafen, während sie in den 1980er Jahren angesichts leerer Staatskassen vermindert wurde, tatsächlich enorm angestiegen, seitdem weitgehend private Konzerne (v.a. in Australien, den USA und Großbritannien) Bau und Betreibung der Gefängnisse übernommen haben. Und zum anderen entstammen die Verurteilten, die neuen “Bösen”, vor allem den Unterschichten und ethnischen Minoritäten. Beides sind Effekte einer auch unter neoliberalen Bedingungen ungebrochenen Definitionsmacht des Staates. Die Kategorie Ethnie spielt dabei unter neoliberaler Hegemonie – entgegen der dem Neoliberalismus eigenen Ideologie von der Gleichgültigkeit gegenüber Kollektiven und dem Primat individueller Leistung – sogar eine zunehmend wichtige Rolle für soziale Ausgrenzung.

Die Produktion von VerbrecherInnen ist aber kein einfacher und gradliniger Vorgang, sondern ein Konglomerat aus Stigmatisierungen, Blick- und Wissensregimen, Sozialpolitik, Normierungen, Führung, Innerer Sicherheit u.a.m. Insofern zwar ein gutes Beispiel für Regieren und Denkweisen verbindende Praktiken, bleibt darin dennoch die Rolle des Staates nahezu unangetastet. Da kaum eine gesellschaftliche Kategorie dermaßen willkürlich definiert ist wie die des Verbrechens, ist die Frage um so entscheidender, wer diese Festlegung vornimmt. Verstanden als Kristallisationspunkt von Kräfteverhältnissen, bündelt der Staat die Definitions- und Entscheidungsmacht und bildet ihre letzte Instanz. Wer oder was kriminell ist, entscheidet letztlich allein er. Auch wenn der Staat selbst, wie Foucault meint, bloß ein Effekt von Gouvernementalitäten ist, bleibt er doch ein wirkmächtiger Effekt.


Literatur

Farocki, Harun: Ich glaubte Gefangene zu sehen, http://8.oldenburger-filmtage.de/so1600tfrk.html (06.06.2004)

Krenn, Martin und Oliver Ressler: European Corrections Corporation, http://www.eu-c-c.com/ konzept.htm (04.06.2004)

Krenn, Martin und Oliver Ressler: European Corrections Corporation. Frankfurt/M. 2004.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt als freier Autor in Wien.