Das Metawissen der AG SchwerPrekär
Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller und Tobias Roscher, die Herausgeber_innen des Buches „Von ‚Neuer Unterschicht’ und Prekariat“ (das schwerstenst empfohlen sei), vereint zunächst auch ihr Engagement bei EnWi Leipzig, einem Zusammenschluss Studierender und Forschender unter dem Namen Engagierte Wissenschaft e.V. In den Köpfen sozialtheoretisch versierter Menschen dürfte es bei diesem Vereinsnamen schon klick machen, denn er verweist auf den letzten Vortrag Pierre Bourdieus, welcher auch auf den Webseiten von EnWi im Netz steht.
Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller und Tobias Roscher, die Herausgeber_innen des Buches „Von ‚Neuer Unterschicht’ und Prekariat“ (das schwerstenst empfohlen sei), vereint zunächst auch ihr Engagement bei EnWi Leipzig, einem Zusammenschluss Studierender und Forschender unter dem Namen Engagierte Wissenschaft e.V. In den Köpfen sozialtheoretisch versierter Menschen dürfte es bei diesem Vereinsnamen schon klick machen, denn er verweist auf den letzten Vortrag Pierre Bourdieus, welcher auch auf den Webseiten von EnWi im Netz steht. Die Konzepte einer kritischen Sozialwissenschaft im Sinne Bourdieus und Foucaults bilden den inhaltlichen Rahmen für die jungen Wissenschaftler_innen, womit sie sich jedoch kein Diktat für die Ausrichtung ihrer Forschungen gesetzt haben möchten.
Wie es dazu kam
Die Basis von Engagierte Wissenschaft e.V. ist die Diskurswerkstatt – ein regelmäßiges Treffen, das als Lese-, Diskussions- und Ideenraum fungiert. Ende 2006 machte sich in der Werkstatt eine Unzufriedenheit breit über die damals in Deutschland vehement aufbrechende, sehr polemisch geführte Debatte zum Problem „Unterschicht“ und „Prekariat“. Die in verschiedenen Diskursebenen wahrgenommenen Rhetoriken und Verkürzungen bei der Beschreibung von Gesellschaft, ihrer Schichtung (z.B. „Unterschichtler sind asozial“ oder „abgehängtes Prekariat“) waren Grund genug für die Werkstatt eine Vortragsreihe zur möglichen Intervention zu planen. Daraufhin konstituierte sich dann die AG SchwerPrekär und diese AG, die wohl keine Aktiengesellschaft ist, war in der Folgezeit viel unterwegs, es wurde an verschiedenen Orten vorgetragen, diskutiert, es gab Workshops und einiges mehr. Schließlich entwickelte sich aus all diesen Aktivitäten der vorliegende Sammelband, der eine gute, ausführliche Einleitung (die auch im Netz steht) und 13 Beiträge enthält. (Ein mir bekannter Text kehrt wieder: Die VirtuosInnen der Freiheit von Isabell Lorey, einer Politikwissenschaftlerin, wurde bereits einmal in den Grundrissen abgedruckt).
Was damit getan ist
Kurz gesagt handelt es sich bei diesem Buch um Analysen gesellschaftlicher Verhältnisse und kritische Perspektiven. Den Fragen des Erfassens, der Kategorisierung, der Wahrnehmung und deren Implikationen für die Entwicklung von Gesellschaft hat sich dieses Buch verschrieben, so die vier Verfasser_innen der Einleitung. Ausgehend von zwei Begriffen („neue Unterschicht“ und „Prekariat“) nähert es sich aus kritischer Perspektive den heutigen Beschreibungen von (bundesrepublikanischen) gesellschaftlichen Verhältnissen. Und dies sei notwendig, denn – ich stimme dem auch als Wienerin absolut zu – die angeblich so objektiven Selbst/Beschreibungen des Sozialen können hochproblematisch und widersprüchlich werden. Es ist den Herausgeber_innen ein Anliegen, der Macht und Ermächtigung, die bei wissensbasierten Prozessen zur Konstitution von Gesellschaft entsteht, entgegenzuwirken und zwar durch eine Praxis des Wissens über Wissen, einer Beschreibung der Selbstbeschreibung. Sie positionieren sich explizit theoriepolitisch (und postoperaistisches Denken geistert herum).
Wie es aufgebaut ist
Im ersten Teil des Buches finden sich Antworten auf die zentrale Fragestellung: Was ermöglicht die Vorstellung des Sozialen als geschichtet? Es werden Wissens(ver)ordnungen und Machtstrategien geprüft, welche eine Schichtung von Gesellschaft als selbstverständlich erscheinen lassen. Der Frage wird dann auf zwei Wegen und auf sehr differenzierte Art und Weise nachgegangen. Dass es bei der Unterschichtdebatte eben um mehr geht als um harmlose Beschreibungen, das formuliert m. E. sehr schön Hermann Kocyba, ein Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung: „Aber diese vermeintlich nur banale Unterschichtsdiagnose richtet sich andererseits auf eine kränkende, Ausschluss-Erfahrungen reaktualisierende und verstärkende Weise gegen diejenigen, denen sie einen sozialen Wert- und Subjektstatus abspricht und die sie gleichwohl für ihre Lage selbst verantwortlich macht.“ Prekarität und Prekarisierung bilden dann das Thema des zweiten Abschnitts. Wenn man den aktuellen Bericht über die Lage der Kunst- und Kulturschaffenden Österreichs und zeitgleich den Beitrag des Theaterwissenschaftlers Sebastian Göschel zum Marsyas-Mythos liest, könnte man fast meinen, Mythos und Realität seien eins. Göschel: „Es fällt auf, dass die Künstlerfiguren innerhalb der Mythen die radikalsten Strafen zu erdulden haben (...) Im modernen Wettbewerb geht der Unterlegene unter, für ihn ist kein Platz mehr.“ Mit Teil III betreten wir Räume/Möglichkeiten von Regierung und Widerstand. Azul Blaseotto z. B. berichtet in ihrem Beitrag nicht nur aus Teilnahme-Sicht von der argentinischen Protestbewegung im Jahr 2001, die, so die Herausgeber_innen, ein Hauch von Postoperaismus umwehte, die Künstlerin verkündet außerdem lautstark: „Ich will nicht mehr arbeiten.“
Es gäbe noch viel zu diesem Buch zu sagen ...
Lisl Steger mag.art betreibt njet-working ist mitglied der zeitschrift grundrisse
Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) (2008): Von „neuer Unterschicht“ und Prekariat – Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch, kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten. Bielefeld: transcript Verlag.
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