Den öffentlichen Raum als Freiraum erobern
Vor rund vierzig Jahren sorgte der amerikanische Import der Gemeinwesenarbeit für Irritationen in der heilen österreichischen Welt. Sie nimmt Sozialräume zum Gegenstand sozialer Intervention und sorgt auf vielfältigste Art dafür, dass sich Menschen für die Gestaltung ihres Lebensraums engagieren. Der Erfolg dieser Arbeit zeigt sich anhand vieler BürgerInneninitiativen.
Vor rund vierzig Jahren sorgte der amerikanische Import der Gemeinwesenarbeit für Irritationen in der heilen österreichischen Welt. Sie nimmt Sozialräume zum Gegenstand sozialer Intervention und sorgt auf vielfältigste Art dafür, dass sich Menschen für die Gestaltung ihres Lebensraums engagieren. Der Erfolg dieser Arbeit zeigt sich anhand vieler BürgerInneninitiativen. Seit dreißig Jahren begleitet das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung in Strobl diesen Teilbereich der Sozialarbeit mit einer jährlich stattfindenden Seminarveranstaltung auf der sich PraktikerInnen und TheoretikerInnen zusammenfinden, um gemeinsam Projekte zu besprechen und zu reflektieren (vgl. Kellner 2004). Die diesjährige Veranstaltung stand unter dem Motto „Lernort-Engagement“, und gab einen guten Einblick in die unglaublich vielfältige und kreative Art und Weise heutiger Gemeinwesenarbeit.
Repositionierungen
Räume sind von Menschen strukturiert und strukturieren Menschen. Derselbe Ort kann für verschiedene Menschen völlig anders konnotiert sein, denn es gibt keinen neutralen Raum. Sie werden sozial ausverhandelt und sind dabei durchzogen von Machtlinien. Siegfried Kracauer nannte Raumbilder einmal „Träume der Gesellschaft“: „Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“ (Kracauer 1990) Anhand des öffentlichen Raums lassen sich gesellschaftliche Machtpositionen ablesen. Nach wessen Helden (seltener Heldinnen) sind die Straßen und Plätze benannt? Wo befinden sich die Repräsentationsbauten, die Verkehrswege, die Grünflächen? Prägnant fasst dies die Raumsoziologin Martina Löw zusammen: „Räume bringen Verteilungen hervor, die in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft zumeist ungleiche Verteilungen bzw. unterschiedliche Personengruppen begünstigende Verteilungen sind. Räume sind daher oft Gegenstände sozialer Auseinandersetzungen. Verfügungsmöglichkeiten über Geld, Zeugnis, Rang oder Assoziation sind ausschlaggebend, um (An)Ordnungen durchsetzen zu können, sowie umgekehrt damit die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann“ (Löw 2001: 272).
Die Positionen sind klar verteilt: diejenigen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie oben stehen, haben das Recht, den öffentlichen Raum zu nutzen, zu beschreiben und zu definieren. Diskriminierte Bevölkerungsgruppen bleiben dagegen unsichtbar oder werden vielmehr unsichtbar gemacht, denn wie wir seit Brecht wissen, sieht man nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Eine der am meisten betroffenen Gruppen sind Migrantinnen. Zur Stärkung deren politischen und kulturellen Partizipation wurde 1994 der Verein maiz in Linz als Organisation von und für Migrantinnen gegründet. Seither bietet maiz Bildung, beispielsweise Basisbildung, Rechts- und Sozialberatung, Kulturarbeit, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit. Letzteres meint Öffentlichkeitsarbeit im Wortsinn mit Kulturarbeit und Aktionen im öffentlichen Raum. Eines dieser Projekte, das die Wahrnehmung und Besetzung von öffentlichen Räumen durch Migrantinnen beinhaltete, waren die „kartographischen Eingriffe“, die Rubia Salgado in Strobl präsentierte.
Betroffene wurden gebeten, zu reflektieren, welche Orte ihnen zugeschrieben werden, welche für sie verboten sind, wo sie erwünscht, wohin sie eingeladen werden, wo sie sichtbar und unsichtbar sind. Schließlich wurde in den Stadtplan eingegriffen: die Teilnehmerinnen erfanden neue Bezeichnungen für öffentliche Straßen und Plätze, versetzten Gebäude, Ämter und andere wichtige Punkte und gestalteten die neue Stadt nach den eigenen Bedürfnissen. Zwischen 2000 und 2004 wurde das Projekt in fünf Städten durchgeführt (Linz, Innsbruck, Steyr, London und München). Ein Erfolg, der vor allem darin liegt, dass Menschen, denen die staatsbürgerlichen Rechte, ob bei Wahlen, am Wohn- oder Arbeitsplatz, abgesprochen werden, lernen, selbst aktiv in ihren Lebensraum einzugreifen. Die Ergebnisse wurden schließlich ausgestellt. Unter anderem in den großen Schaufenstern des ebenerdigen maiz-Büros in der Linzer Altstadt, die regelmäßig genutzt werden, um auf Ideen und Aktivitäten von Migrantinnen aufmerksam zu machen.
Diese Sichtbarmachung des Unsichtbarmachens von Diskriminierten finden wir an vielen Orten. Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Rosa Lila Villa in Wien, die von Marty Huber im Rahmen des Seminars vorgestellt wurde. An sich als rosa und lila angemaltes Haus für viele Wiener BürgerInnen schon eine Provokation, nützt die Villa ihre Fassade, um politische Botschaften zu platzieren (siehe den Beitrag von Marty Huber in diesem Heft).
Orte verändern
Lernorte können direkt an den Alltagsorten der Mehrheitsbevölkerung entstehen. Aus dem Bedürfnis heraus, die eigene, künstlerische Arbeit sichtbar zu machen, initiierte eine Wiener Gruppe um Denise Narick und Susanne Gisch das „öffentliche Wohnzimmer“ Nuu. Entstanden ist ein halböffentlicher Ort in der Wiener Wilhelm-Exnergasse, der KünstlerInnen und andere Menschen, die etwas mitzuteilen haben, einlädt, den Ort zu nutzen, um Feste, Ausstellungen oder Happenings zu veranstalten. Dabei bleiben die heute gern beschworenen Prinzipien von Marketing, „Customer Relation Management“ und Finanzierung angenehm anachronistisch. Beworben wird der Ort vor allem über Mund-zu-Mund-Propaganda. Alle sind eingeladen, bleibt jemand jedoch fern, stört dies auch nicht weiter. Um eine möglichst große Unabhängigkeit zu sichern wurde bisher auch auf Anträge zur Förderung des Projekts verzichtet. So erfolgt die Finanzierung hauptsächlich über das Kunstcatering „Moving Pot“. Ein Luxus, der natürlich immer die Gefahr beinhaltet, letztlich nur diejenigen Menschen zu erreichen, die sich bereits innerhalb bestehender Netzwerke befinden und es sich leisten können, Veranstaltungen mit hohem Eigenfinanzierungs- und Selbstausbeutungsanteil anzubieten.
Karo Rumpfhuber von der Wiener Agentur Plansinn stellte in Strobl das Projekt „Stand des Wissens“ dar. Im Rahmen der Regierungskampagne „innovatives Österreich“ wurden Projekte finanziert, die Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit vermitteln sollten. Der „Stand des Wissens“ ging dabei für jeweils einen Tag auf acht Märkte in Ostösterreich. Auf einem Marktstand wurden Symbole aus dem Bereich der Marktsemiotik ausgestellt, die mit Hilfe von Assoziationsketten an Wissenschafts- und Forschungsgegenstände verknüpft wurden. So führte beispielsweise eine ausgestellte Flasche über die Assoziationskette des Glases letztlich zur Optik und Augenheilkunde. Daneben informierten WissenschafterInnen aus verschiedenen Disziplinen über ihr Forschungsgebiet. Auf eigens produzierten Einkaufssackerln/-tüten wurden schließlich weitere Informationen abgedruckt und verbreiteten sich damit auch außerhalb des Marktes. Die beiden Projekte „Nuu“ und „Stand des Wissens“ nutzten damit bereits bestehende Räume, um diese umzudefinieren und damit auch einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu Wissensvermittlung, im weitesten Sinn des Wortes, anzubieten.
Wissensdistribution
Eine andere Strategie, dem räumlich Zentrierten und Gebundenen entgegenzuwirken, zeigte Gerhard Pilgram von der Klagenfurter Gruppe unikum (Universitätskulturzentrum/ Kulturni center univerze v Celovcu). Auch seine Gruppe präsentiert ihre Anliegen an öffentlichen Plätzen und Märkten: Als der ehemalige Kärntner Kulturbeauftragte von Haiders Gnaden, Andreas Mölzer, die Kunst als eine Hure bezeichnete, schmückte unikum das Kärntner Künstlerhaus als Hurenhaus. Das Vermittlungsprinzip liegt jedoch vor allem in der Distribution und Streuung von Materialen, die im weitesten Sinn an der politischen Situation in Kärnten anecken. Als sich, wie alle Jahre wieder, am 10. Oktober 2000 die deutschnationalen Kärntner am Ulrichsberg versammelten, rief unikum mittels Postkarten zur Evakuierung des Landes auf. Als die Kärntner Landesregierung die Subventionen strich, machte die Kreativwerkstatt die verlorenen Gelder wett, indem es „Bärentaler Sterntaler“, Schneekugeln mit Symbolen aus Haiders Umfeld, produzieren ließ und verkaufte. Als der Landeshauptmann damit begann Ortstafeln zu verstellen, verteilte unikum Kleber mit Hačeks, die in ihrer Größe geeignet waren, Ortstafeln zu ergänzen. Weitere Projekte sind Wanderungen zum slowenischen Nachbarn oder, seit kurzem, eine Buchstabensuppe die mit den Buchstaben č, š, ž ergänzt wurde. Prinzip ist, politische Inhalte mit soviel Humor zu transportieren, dass es einer reaktionären Kritik schwer fällt, sich daran festzubeißen. Abgesehen davon kann unikum durch die Verkäufe noch die bisherigen Streichungen von Subventionen und den Wegfall von SponsorInnen wettmachen.
Ein ganz anderes Medium, das sich ebenso ideal eignet, um Botschaften möglichst breit zu streuen, ist bekanntlich das Internet, indem die Grenzen von Realität und Simulation in einem bisher unbekannten Ausmaß verschwimmen. Der Cyberspace ist noch ein sehr junger öffentlicher Raum mit sehr spezifischen Möglichkeiten und Beschränkungen. War es früher mit den „alten Medien“ nur Wenigen vorbehalten, Informationen zu filtern und weiterzuverbreiten, ermöglichen die Kommunikationsformen des Web 2.0 nun weitaus größere Partizipationsmöglichkeiten. David Röthler stellte in Strobl Möglichkeiten und Beschränkungen vor, wie im Internet Freiräume, Lernorte oder einfach politische Kampagnen funktionieren könnten.
Schließlich erinnerten Christian Kloyber, Matthias Reichl und Anton Rohrmoser an Paulo Freire, dessen Ideen noch heute für die Gemeinwesenarbeit wegweisend sind.
Resümee
Die vorgestellten Projekte stellen nur einen kleinen Teilbereich möglicher öffentlicher Interventionen dar. Sie bieten jedoch gute Ansätze für weitere kreative Konzepte jenseits der bekannten Methoden wie Stadteilarbeit oder Demonstrationen. Dabei haben sie entweder den Ort, an dem sie waren, genutzt, sind an die Alltagsorte der Menschen gegangen oder setzten auf die breite Verteilung ihrer Anliegen. Sie können dabei provozieren oder subtil arbeiten, dahinter stecken jedoch immer politische Anliegen mit dem Ziel, die Räume neu zu konstituieren, Unsichtbares sichtbar zu machen und Kommunikation anzuregen. Der Ort ist Ziel und Resultat der Intervention.
Links
maiz
Nuu :
Rosa Lila Villa
Stand des Wissens
Unikum
Web2.0
Literatur
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt/Main
Kellner, Wolfgang (2004): Die Seminarreihe „Erwachsenenbildung und Gemeinwesenarbeit“ im Bundesinstitut für Erwachsenenbildung in Strobl 1979 bis 2004. In: Rohrmoser, A. (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit im ländlichen Raum. Innsbruck / Wien
Kracauer, Siegfried (1990): „Über Arbeitsnachweise. Konstruktionen eines Raumes“ (orig. 1929). In: Schriften Bd.5, S. 185-192
Ingolf Erler arbeitet als Soziologe am Österreichischen Institut für Erwachsenenbildung.