Denk praktisch, sei radikal!
Ist es nicht merkwürdig? Menschen nehmen teil an den Wahlen für das europäische Parlament, doch ihr Votum wird nur auf nationaler Ebene relevant. Fast alle Kommentare analysieren die Wahlergebnisse vom Standpunkt der jeweiligen Nationalpolitik her. Als sei es nicht um die europäischen, sondern um eine Art nationaler Probewahlen gegangen.
Ist es nicht merkwürdig? Menschen nehmen teil an den Wahlen für das europäische Parlament, doch ihr Votum wird nur auf nationaler Ebene relevant. Fast alle Kommentare analysieren die Wahlergebnisse vom Standpunkt der jeweiligen Nationalpolitik her. Als sei es nicht um die europäischen, sondern um eine Art nationaler Probewahlen gegangen. Das Interessanteste dabei ist aber nicht dieser Widerspruch selbst, sondern vielmehr die Indolenz, mit der die Menschen – die WählerInnen, PolitikerInnen und TheoretikerInnen – diesen Widerspruch dulden. Sie deutet auf einen neuen politischen Eskapismus hin, der nicht aus der Logik der Politikverdrossenheit zu erklären ist. Man ist nicht bloß der real existierenden Demokratie müde geworden, sondern schreckt vor ihren destruktiven Potenzialen zurück, die das europäische Projekt zu entfesseln droht.
Die einzige wirklich prinzipielle Frage der europäischen demokratischen Zukunft lautet: Gibt es eine Demokratie jenseits des Nationalstaates? Beide möglichen Antworten auf diese Frage – die negative wie auch die positive – haben äußerst radikale Konsequenzen. Falls das Demokratiekonzept nur innerhalb eines Nationalstaates realisierbar ist, dann muss das Europa der Zukunft entweder eine Art Nationalstaat werden, der in absehbarer Zeit aufhört, seine Souveränität mit den heutigen europäischen Nationalstaaten zu teilen, was praktisch heißt, dass er sie früher oder später wird vernichten bzw. verschlucken müssen; oder: Das Europaprojekt hat keine demokratiepolitische Zukunft und bleibt eine Art dekorative Utopie, mit der sich das nationalstaatliche System schmückt, ohne in irgendeinem wesentlichen Punkt verändert zu werden.
Falls sich im Projekt der europäischen Vereinigung eine postnationale politische Zukunft ankündigt, in der sich das Konzept der Demokratie ein für allemal von seiner nationalstaatlichen Fixierung befreit, dann leben wir schon jetzt in einem politisch verfallenden System, dessen Legitimität nicht mehr aufrecht zu erhalten ist und dessen wichtigste Kategorien, die bislang unsere Lebenswelt entscheidend geprägt haben, wie die des Bürgers, der Öffentlichkeit, der politischen Parteien, des Parlaments etc., rapid an Bedeutung verlieren; dann betreten wir einen neuen – globalen!? – Raum der Politik, in dem auch die politische Identität Europas verblasst, bevor sie ihre endgültige Form findet. Wozu noch Europa, wenn schon die ganze Welt auf dem Spiel steht?
Der einzige Grund, dass man sich diesen Fragen nicht in ihrer Radikalität stellt, liegt in der Überzeugung, die politische Zukunft Europas sei nur noch eine Frage der demokratischen Evolution. Man müsse auf dem Weg der toleranten Verhandlungen die jeweilige win-win-Situation konstruieren, und bald schreite das Vereinigungsprojekt wieder voran; im nahrhaften Boden des Gemeinwohls soll Europa von selbst zusammenwachsen: Zum Vorteil von allen und zum Schaden von keinem! Ich glaube nicht daran. Das einzig real existierende Konzept der – nationalstaatlichen – Demokratie ist in der Revolution geboren worden. Die Günstlinge des ancien regime waren nicht bereit, ihre Privilegien freiwillig abzugeben. Erwartet jemand, dass ihre heutigen Pendants aus der Geschichte gelernt haben?