Die Kulturalisierung von Ungleichheit
In einer Zeit, in der soziale Sicherungssysteme zurückgefahren werden, tritt die herrschende Politik – ausgehend von Sarrazins Buch – eine politische Kampagne los, die den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit auf die „Integrationsunwilligkeit“ muslimischer Einwanderer verschiebt.
Aktuell gibt es einen Rechtsruck in der deutschen Migrationsdebatte. Sarrazin favorisiert biologistische und eugenische Lösungen sozialer Verteilungsfragen. Bundeskanzlerin Merkel tritt mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Seehofer für die deutsche Leitkultur und repressivere Integrationskriterien ein. Die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ problematisiert „Deutschenfeindlichkeit“ an Stelle rassistischer Diskriminierung im Bildungssystem. Und das mit massenhafter Zustimmung. Nennenswerte Teile des Wahlvolks pflichten dem Entwurf einer „bunten Republik“ von Bundespräsident Wulff offensichtlich wenig bei. Sarrazins Ungleichheitspamphlet greift gängige Diskurse zu Migration – die Situation an Schulen, die Kopftuchdebatte oder den Bau von Moscheen – auf und stellt – für rechts und links – ein Vokabular zur Verfügung, mit dem sich das allgemeine Unwohlsein mit der Migrationsgesellschaft artikulieren lässt. Die aktuelle Debatte zeigt, wie heiß in Deutschland der soziale und politische Umgang mit der Realität, Einwanderungsland zu sein, und die sich anschließenden Verteilungsfragen umkämpft sind.
Das Dilemma von Einschluss und Ausschluss
In einer Zeit, in der soziale Sicherungssysteme zurückgefahren werden, tritt die herrschende Politik – ausgehend von Sarrazins Buch – eine politische Kampagne los, die den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit auf die „Integrationsunwilligkeit“ muslimischer Einwanderer verschiebt. Soziale Konflikte werden am Fehlverhalten einer „identifizierbaren“ ethnischen Gruppe festgemacht. Über die Organisierung eines rassistischen Konsenses wird versucht, politische Zustimmung zu mobilisieren. Die Debatte ist Ausdruck einer Problemlage, die sich den politischen und ökonomischen Eliten augenblicklich stellt. Sie müssen eine Politik entwerfen, die der gleichzeitigen Funktionalität von Einschluss und Ausschluss von MigrantInnen Rechnung trägt: (1) Ausschluss: In den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ angeworben, werden MigrantInnen als untere ArbeiterInnen mit niedrigem sozioökonomischen Status eingebunden. Mit der „geistig-moralischen Wende“ (1) der Kohlregierung in den 1980er Jahren werden sie in den Niedriglohnsektor gedrängt und sind besonders von der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik betroffen. Die Konstruktion von religiös-kultureller Andersartigkeit schreibt ideologisch die gesellschaftliche Unterordnung von MigrantInnen fest. Die Linke greift – unter umgekehrten Vorzeichen – diese Kulturalisierung sozialer Konflikte auf und orientiert sich an Toleranz gegenüber anderen „Kulturen“. Der rot-grüne Multikulturalismus zementiert die Vorstellung in sich geschlossener Kulturen und klammert Klassengegensätze aus. MigrantInnen bleiben sozial- und sicherheitspolitisches Problem, gleiche politische, soziale und kulturelle Rechte werden ihnen bis heute verweigert. In Deutschland konnte sich keine migrantische Mittelschicht als gesellschaftlich ernst genommener Akteur etablieren. Vielmehr bildete sich eine migrantische Unterschicht, die nicht in gesellschaftliche Mehrheitsprojekte integriert wird.
(2) Einschluss: Laut Statistiken zur demografischen Entwicklung kommen 2030 in Deutschland ca. 30% der Wahlberechtigten aus Einwandererfamilien. Zudem wird im Nachgang der Krise seit 2008 und dem neuerlichen konjunkturellen Aufschwung ein akuter Mangel an qualifizierten ArbeiterInnen beklagt. Internationaler Konkurrenzdruck legt nahe, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, deren Bildungskosten nicht bezahlt werden müssen und die – aufgrund altbewährter Kontingent-Regelungen – keine Bedrohung für deutsche ArbeitnehmerInneninteressen darstellen. Für diese Migration muss geworben werden – innerhalb und außerhalb Deutschlands. Denn der Ruf bei qualifizierten Arbeitskräften ist beschädigt, und Mindestlohnregelungen in anderen Europäischen Ländern ziehen dem Billiglohnsektor v. a. in der Landwirtschaft die flexiblen Arbeitskräfte ab. Gleichzeitig ringt Deutschland im internationalen Wettbewerb um eine neue Identität als „Einwanderungsland“. Migrantische Präsenz ist im (neoliberalen) Selbstverständnis globaler Metropolenkultur sehr bedeutsam geworden. Als Anzeichen für kulturelle Vielfalt wird sie zur Produktivkraft. Neue Konzepte wie diversity management versuchen unterschiedliche Erfahrungshintergründen profitabel zu machen. Im ethnical marketing werden auf Grundlage ethnischer Besonderheiten neuer Images formuliert und Konsumentenmärkte erschlossen. Auf dem Feld der Migrationspolitik wird eine Diskussion zwischen linken, rechten und wirtschaftsliberalen Positionen über zukünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgetragen, die noch unentschieden ist. Es geht dabei nicht um kulturelle Anerkennungsfragen, sondern gestritten wird über die Zukunft und den Wirkungsradius des deutschen Sozialstaats. Wer wird versorgt und einbezogen, wer wird abgehängt und zahlt die sozialen Kosten?
Die Konjunktur von antimuslimischem Rassismus
Der antimuslimische Rassismus hat in dieser Debatte Hochkonjunktur. Unschwer zu erkennende kulturelle oder religiöse Symbole wie das Kopftuch oder die Moschee aber auch der Neuköllner Street-Style dienen als Träger sozialer Zuschreibungen: „integrationsunwillig“, „bildungsfern“ oder „frauenfeindlich“. Diese Eigenschaften können quasi direkt körperlich abgelesen werden. Der hohe muslimische Bevölkerungsanteil in Berliner Bezirken wie Neukölln, Kreuzberg oder Wedding wird über Begriffe wie „Parallelgesellschaft“ oder „Ghetto“ öffentlich stigmatisiert. Inzwischen reicht oft einzig die Erwähnung von schlechten Schulergebnissen oder Armut in diesen Bezirken als Beweis, um soziale Probleme als „typisch“ für MigrantInnen zu betrachten.
Antimuslimischen Diskurse sind dabei in dreifacher Weise wirksam: (1) Die unerwünschten MigrantInnen werden als MuslimInnen identifiziert und von erwünschter Migration abgegrenzt. Je nach ideologischer Orientierung wird die deutsche Gesellschaft als „christlich-jüdisch“ oder „westlich-säkular“ definiert. Einig sind sich diese Positionen darin, „den Islam“ als homogene, feststehende Kultur zu betrachten – anti-modern und rückschrittlich. Diese Kultur des „Anderen“ (Nicht-Deutschen) sei nicht mit der Mehrheitsgesellschaft vereinbar, ja stelle sogar eine soziale Gefahr für den einigenden Konsens dar. Die Geschlossenheit muslimischer Kultur sei nicht zu überwinden – auch nicht für die Politik. Soziale und rechtliche Gleichstellung wird so undenkbar. (2) Die sozialen Konflikte im Zuge des Sozialabbaus werden auf das Feld der Kultur verschoben und der politischen Verhandlung entzogen. Die prinzipielle Möglichkeit sozialer Gleichheit verschwindet hinter kulturellen Grenzen. Dieser Schritt, Ungleichheit aufgrund kultureller Zugehörigkeiten politisch unantastbar zu machen und gegen politische Kämpfe abzudichten, ist folgenreich. Schnell können andere gesellschaftliche Gruppen als „Kulturen“ identifiziert und ihre soziale Ungleichbehandlung – besser oder schlechter – begründet werden: Arbeitslose, Hartz IV-EmpfängerInnen ebenso wie AkademikerInnen oder sogenannte Bildungseliten. (3) Über die Organisierung gesellschaftlicher Bündnisse auf Grundlage rassistischer Kulturkonstruktionen gelingt es, eine (autoritäre) Bearbeitungsform der verschärften sozialen Widersprüche zur Verfügung zu stellen und politische Zustimmung zu mobilisieren. Das ideologische Angebot „von oben“ wird von Teilen der Bevölkerung (von subalternen Gruppen bis zur Elite) dankend angenommen. Die eigene Verunsicherung durch Abstiegsangst, Bedrohung durch Arbeitslosigkeit oder erhöhte Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt wird in gemeinsame Gewissheiten über die kulturelle Andersartigkeit von MuslimInnen umgearbeitet (2). In Zeiten anhaltender Krisenangst schafft dies Sicherheit für all jene, die sich der Mehrheitsgesellschaft zurechnen können. Sie können sich nicht nur gewiss sein, dass sie ja „nicht gemeint“ sind, sondern zudem, dass die Politik als direkte Verteidigerin des ihnen „zustehenden“ gesellschaftlichen Reichtums auftritt.
Warum soziale und antirassistische Kämpfe zusammen gehören
Inzwischen ist es eine Art Gemeinplatz in der linksradikalen Diskussion, den Multikulturalismus als identitär oder sogar rassistisch zu bezeichnen und Gegenidentifikationen von MigrantInnen als Selbstethnisierung zu brandmarken. Beides resigniert vor der Wirkungsmächtigkeit gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse und bleibt gefangen zwischen „Identitätsguerilla und radikale[r] Identitätskritik“(3). Die „Besonderheit“ ist in Bezug auf migrantische Existenz nicht nur Konstruktion, sondern als solche gleichermaßen existent. Der unterschiedliche politische Status wirkt real homogenisierend. Migrantische Existenz in Deutschland markiert einen politischen Skandal: die systematisch eingerichtete Ungleichbehandlung und Abwertung in einer Gesellschaft mit demokratischem Selbstverständnis. „Multikulti“ lässt diese Tatsache hinter der Forderung nach Anerkennung „fremder Kulturen“ und neoliberaler „Vielfalt“ verschwinden. Ihre „Fremdheit“ wird fortgeschrieben, gesellschaftliche Machtverhältnisse bleiben unberührt. Diese Lücke kann nur gefüllt werden, wenn unsere sozialen Kämpfe gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse auf ihren unterschiedlichen Ebenen thematisieren und angehen. Wie sehr „Kultur“ als Ort von (symbolischen) Kämpfen betrachtet wird, hat maßgeblich mit der Zugangsmöglichkeit zu politischen Verhandlungsräumen zu tun. Diese stehen MigrantInnen historisch kaum zur Verfügung, was u. a. die Verlagerung sozialer Interessenartikulation auf das Feld der Kultur bewirkt hat. Dieser Kulturalisierung zu begegnen bedeutet, in sozialen Kämpfen für Rechtsgleichheit als Bedingung gesellschaftlichen Teilhabe einzustehen, anstatt den politischen Ausschluss im Gewand radikaler Kritik zu verdoppeln.
Um die Handlungsspielräume sozialer Kämpfen zu erweitern, gilt es wahrzunehmen, dass deutsche Geschichte eine Geschichte der Sieger ist, maßgeblich des rassistischen Nationalstaates. Deshalb finden wir es wichtig, theoretisch wie praktisch gegen den Prozess aktiver Verdeckung subalterner Geschichte anzuarbeiten, die versucht, alles, was das hegemoniale Geschichtsbild in Frage stellt, vergessen zu machen. Die Geschichte migrantischer Kämpfe um Bildung und Wohnen in den 1970er Jahren muss hier ebenso ins Bewusstsein gerückt werden(4) wie die Arbeitskämpfe im Dienstleistungsbereich in den 2000er Jahren. In diesem Sinne versuchen wir durchaus, Geschichte zu universalisieren, d. h. auf eine lange Geschichte strukturell vergleichbarer Kämpfe und Erfahrungen zurückzugreifen und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.
Wir setzen uns für soziale Kämpfe ein, die darauf gerichtet sind, politische Organisierung zu verbreitern und auf eine Solidarisierung zwischen Gruppen hinzuarbeiten, die in unterschiedliche Machtverhältnisse eingebundenen sind. Beispiele hierfür sind die Kampagne „Integration – Nein Danke!“ (5) oder die Demonstrationen unter dem Motto „Wohnungen für alle“, die Forderung nach angemessenem Wohnraum für Hartz IV-EmpfängerInnen und AsylbewerberInnen verbinden. Es sind erste Ansätze, die geführten Auseinandersetzungen der Kulturalisierung zu entreißen: Kämpfe für soziale Gleichheit und solidarische Umverteilung jenseits des Integrationszwangs. Unser aktuelles Engagement in den Krisenprotesten sehen wir als Versuch, dieser politischen Perspektive Geltung zu verleihen. In diesem Sinne hoffen wir auf eine Fortführung und internationale Vernetzung solcher Protestaktionen.
Die Gruppe Soziale Kämpfe ist in Berlin lokalisiert und dort u. a. in die aktuellen Krisenproteste im Bündnis „Wir zahlen nicht für eure Krise“ sowie in antirassistische Mobilisierungen gegen antimuslimischen Rassismus aktiv.
Mehr Infos unter: Gruppe soziale Kämpfe und Kapitalismuskrise
Fußnoten
(1) Bundeskanzler Kohl kündigt mit seiner Regierungsübernahme 1982 eine „geistig-moralische-Wende“ an. Dies beinhaltete v. a. eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik.
(2) Die volle Zustimmung zu der Aussage „Wir sollten die in Deutschland lebenden Ausländer so leben lassen, wie sie es gewohnt sind“ ist von 22,7% (2003) auf 8,2% (2006) gefallen. Vertraten 2003 noch 65% der Bevölkerung einen Standpunkt zum Kulturerhalt und zur Partizipation von „Ausländern“, die man als Integration fassen könnte, waren es 2006 nur noch 43% (vgl. Heimeyer et al., Deutsch Zustände Folge 5, 155).
(3) Vgl. kanak attak: Multikulturalismus. Die Caprifischer schlagen zurück, www.kanak-attak.de/ka/text/caprifischer.html (7.3.2009).
(4) Vgl. Karakayali, Serhat: Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln, Migrantische Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik.
(5) siehe: Integration Nein Danke