„Kann man 40 Jahre Gast sein?“

Schwarz-weiß Filmmaterial, ca. aus den 1970ern, das einen Kinosaal und auf eine Leinwand starrende Menschen zeigt, welche sich von einem mit österreichischem Akzent sprechenden Mann „Ich bin f-r-e-m-d hier“„beibringen“ lassen müssen. „Ich bin Aus-län-der.“ „Sie sind NICHT von hier. Nein, ich bin FREMD hier“, wiederholen die Stimmen. Unterrichtsmaterial für den Erwerb der deutschen Sprache? Eher „Anwerbungspolitik“ auf österreichisch.

Schwarz-weiß Filmmaterial, ca. aus den 1970ern, das einen Kinosaal und auf eine Leinwand starrende Menschen zeigt, welche sich von einem mit österreichischem Akzent sprechenden Mann „Ich bin f-r-e-m-d hier“„beibringen“ lassen müssen. „Ich bin Aus-län-der.“ „Sie sind NICHT von hier. Nein, ich bin FREMD hier“, wiederholen die Stimmen. Unterrichtsmaterial für den Erwerb der deutschen Sprache? Eher „Anwerbungspolitik“ auf österreichisch.

So beginnt die von Kenan Kilic 2008 fertig gestellte Dokumentation Gurbet, die 90 Minuten durch die Lebensgeschichten türkischer MigrantInnen in Österreich führt und – auf Türkisch mit deutschen Untertiteln – eine Analyse der österreichischen Migrationspolitik von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart liefert. Die nächsten Bilder (aus derselben historischen Zeit) zeigen eine moderne Metropole, dynamische Straßen, Märkte, Schiffe, einen Bahnhof, Ticketschalter, eine Anwerbestelle, dann wieder eine Fabrik, ein Fließband, eine Baustelle. Bilder aus Istanbul. Alle ProtagonistInnen im Film, die als so genannte „GastarbeiterInnen“ seit Ende der 1960er „angeworben“ wurden – mittlerweile sind sie alle im Pensionsalter –, erzählen unsentimental, und doch sensibel, wie es ihnen seit ihrer Ankunft in Österreich ergangen ist. Während der Jause, dem Kochen, dem Blutdruckmessen, dem Rasieren oder dem Gebet teilen sie uns mit, wie schnell das Leben (in Österreich) mit ausbeuterischer Arbeit, zerplatzten (Erfolgs-)Träumen, Sehnsucht nach der Familie und Freunden oder dem Herkunftsort und der Enttäuschung über das Verhalten der österreichischen Mehrheitsbevölkerung vergeht. Aber auch über die Freude und den Stolz darauf, alles eigenständig aufgebaut zu haben, erzählen sie. Und durch fast alle Geschichten zieht sich die Erkenntnis, dass die Kraft des Unberechenbaren im Leben von starker Bedeutung ist: Keiner von ihnen hätte je gedacht, dass sie/er so lange in diesem Land leben und bleiben würde. Gurbet ist in mehrere Themenbereiche unterteilt, welche durch Interviews, historisches Material, private Gegenstände und aktuelle Alltagsaufnahmen ergänzt werden; und er ist somit ein enorm wichtiger Beitrag zu einer emanzipatorischen Migrationsgeschichtsschreibung, aus der – bis jetzt ignorierten und unterrepräsentierten – Perspektive von MigrantInnen. Den ZuseherInnen werden so die Träume, Projektionen, spezifischen Bedürfnisse, (Selbst-)Organisierungsversuche und Kämpfe für bessere Verdienstmöglichkeiten und gegen Rassismus durch emotionale, witzige und teils berührende Erinnerungen näher gebracht.

„Leute, die nicht mal eine Krawatte binden konnten, gingen nach Europa und kamen mit einer Krawatte zurück.“
Alle ErzählerInnen im Film sind überwiegend männlich und meistens ohne die Ehepartnerin zu sehen. Dieser Umstand gibt Hinweise auf die damalige Rekrutierungspolitik Österreichs. „Angeworben“ wurden überwiegend männliche Arbeitskräfte für das Industrie- und Baugewerbe, die schwerer körperlicher Arbeit, nicht existierenden Arbeitsrechten, Unterbezahlung und ständiger Androhung von Ausweisung ausgesetzt waren. Umso berührender sind jene Szenen, bei der das Filmteam einige Darsteller zu ihren Geburtsorten begleitet und die die nach wie vor starken sozialen Verbindungen trotz der großen geographischen Distanz zeigen. Abseits der privaten Aspekte kann aus Gurbet herausgelesen werden, wie aus den so genannten „bilateralen Länderabkommen“ für Arbeitsmigration, aus den starken Verbindungen der Menschen, die Nationalstaaten profitier(t)en. Viele Dörfer der so genannten „GastarbeiterInnen“ in verarmten, ländlichen Regionen wurden und werden durch Rücküberweisungen aufgewertet und haben mittlerweile einen besseren Lebensstandard erreicht.

Kritik gegenüber dem eigenen Staat, hier speziell der vernachlässigte Umgang mit den im Ausland lebenden BürgerInnen, wird von manchen Interviewten ebenfalls klar artikuliert. Österreich wiederum verweigert(e) die Vergabe von (BürgerInnen-) Rechten, die Möglichkeiten eines gesicherten Lebens, die Förderung von (weiterer) Qualifizierung etc. Diese feindlichen Politiken gegenüber MigrantInnen stärkten jedoch auch ihre Selbstorganisation und den Aufbau sozialer Orte.

„Ich bin dort angekommen ... Nicht einmal in Kriegszeiten hätte man das Haus als Unterschlupf verwenden wollen.“
Weibliche Arbeitskräfte als „Gastarbeiterinnen“ waren mehrheitlich aus dem ehemaligen Jugoslawien. Türkinnen kamen meistens als Ehefrauen nach Österreich (Familiennachzug). So fanden sich viele in die Arbeiter(Innen)heime mit ihren schlechten Wohnbedingungen gedrängt, und meist aufenthaltsrechtlich und finanziell von ihren Ehemännern abhängig, wieder. Im Film erzählen einige Frauen ihre trotz allem emanzipatorischen Lebensgeschichten, die Aushandlungsprozesse mit Gesetzgebern und eigenen traditionellen, oft patriarchal-geprägten Strukturen umfassen. „Bei uns gilt es als Schande, wenn eine Frau arbeiten geht. Man erklärt den Ehemann für gestorben … Doch ich wollte, und ich hatte das Recht zu Arbeiten.“

Die Geschichten dieser Menschen konfrontieren uns mit der Bedeutung von Migration als emanzipatorischer Kraft in der österreichischen (und europäischen) Gesellschaft. Betont wird dies durch den respektvollen Einsatz der Kamera, die Bildgestaltung und Interviews, die in der Erstsprache der ProtagonistInnen geführt wurden. Filme wie Gurbet oder Nachreise (2002) des Autodidakten Kenan Kilic sind somit bedeutende Beiträge zur Historisierung von Migrationsgeschichte aus einer selbstbestimmten, migrantischen Perspektive. Wie wäre es mit einer Ausstrahlung solcher Filme im ORF? Jene von Gurbet wurde dort nämlich untersagt ...

Petja Dimitrova ist Künstlerin und lebt seit 1994 in Wien. Sie ist Vorsitzende der IG Bildende Kunst und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien im Ordinariat für postkonzeptuelle Kunst.