Kultur der Urbanität. Stadt und Migration
„Ach Wien, ohne uns Fremde, Migranten, Zugewanderte, hättest du weder Vergangenheit noch Zukunft“, lasen wir kürzlich auf einem Plakat in einer Wiener U-Bahn-Station. Besser lässt sich die komplexe Beziehung Stadt und Zuwanderung kaum auf den Punkt bringen.
„Ach Wien, ohne uns Fremde, Migranten, Zugewanderte, hättest du weder Vergangenheit noch Zukunft“, lasen wir kürzlich auf einem Plakat in einer Wiener U-Bahn-Station. Besser lässt sich die komplexe Beziehung Stadt und Zuwanderung kaum auf den Punkt bringen.
Wie für jedes andere Thema bieten sich auch hier unterschiedliche Betrachtungswinkel an. An der Bedeutung von Migration für die Vergangenheit und die Zukunft von Städten wird man aber nicht vorbeikommen. Diese Einsicht öffnet den Blick für die widersprüchliche Dynamik, die das Wesen von Urbanität ausmacht und gerade Großstädten letztlich ihre Stabilität und Anziehungskraft verleiht, während kleinere Städte häufig mit Stagnation und Abwanderung zu kämpfen haben.
Großstädte sind kulturelle Kontaktzonen und Transiträume, Orte der Ungewissheit und des Fremden, sie halten Nischen bereit für eigenwillige Selbstentwürfe, bieten die tägliche Erfahrung von Übergängen, Zwischenräumen und Neuanfängen. Sie leben praktisch von Migration und Pluralität. Diese urbane Diversität ist kein statisches Nebeneinander unterschiedlicher Elemente, die wie Mosaiksteine ein einheitliches Gesamtbild ergeben, sondern vor allem in Bewegung und Gegenbewegung, wechselnder Vermischung und Brüchen zu finden, die immer wieder zu Umorientierung und Perspektivenwechsel zwingen.
Migration als historische Normalität
Inzwischen besteht in den Kulturwissenschaften ein gewisser Konsens darüber, dass Wanderung historisch gesehen als Normalität zu betrachten ist und jede Geschichte des Menschen und der Städte auch als eine Geschichte von Migration und Wanderung dargestellt werden kann. Dies gilt umso mehr in Zeiten globaler Vernetzung durch die rasante Entwicklung von Informations- und Transporttechnologien, in denen Globales und Lokales auf neue Art aufeinander trifft und zu immer neuen Verbindungen führt. Eine Öffnung der Orte zur Welt.
Die politischen und medialen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum lassen jedoch erkennen, dass nach wie vor nationale, homogenisierende Perspektiven dominieren, welche Mobilität zwar als Erfordernisse unserer Zeit zu würdigen wissen, transnationaler Migration bzw. Zuwanderung aber weiterhin mit Argwohn und Ablehnung begegnen. Ebenso sind Stadtdiskurse eingebunden in lokale und globale Dominanzverhältnisse. Wer bestimmt, was modern ist und was dem Zerfall geweiht, was Ghetto und Parallelgesellschaft, was öffentlich ignoriert und abgewertet oder was gefördert und aufgewertet wird?
Wenn Migration nach ethnisch-nationaler Herkunft betrachtet und vor allem als Bedrohung verstanden wird, fungiert das duale Prinzip „Einheimische“ und „Ausländer“ als Richtmaß der Wahrnehmung, zirkuliert als reproduziertes Wissen durch öffentliche Repräsentationen und prägt damit den Migrationsdiskurs. Unter diesen Vorzeichen geraten Menschen über Generationen hinweg zu Dauergästen, Zugewanderte und ihre Nachkommen unter misstrauische Beobachtung. Zum Integrationsbeweis werden von ihnen Loyalitätsbekenntnisse verlangt bzw. vermisst, die bei „Einheimischen“ selten nachgefragt oder als gegeben vorausgesetzt werden.
„Urban Upcycling“
Über Jahrhunderte hinweg wurde Stadtentwicklung von unterschiedlichen Migrationsbewegungen in Gang gesetzt. Insofern war die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine neue Phase, die viele Städte nachhaltig veränderte. Auch zur Gegenwart der Städte gehört Bewegung im räumlichen und im sozialen Sinn, eine Mobilität, die weder linear noch harmonisch ist, die aber die Geschichte und Lebenswirklichkeit aller großen Städte bestimmt.
Der konstitutive Zusammenhang von Migration und Urbanisierung erlangt jedoch nur selten die Aufmerksamkeit in politischen und publizistischen Debatten. Ebenso wenig Anerkennung finden bis heute die unterschiedlichen Kompetenzen und Ressourcen im Sinne einer erfolgreichen urbanen Praxis. Es verwundert daher nicht, dass in der kritischen Migrationsforschung der letzten Jahre für einen Beobachtungshorizont plädiert wird, der sich für die Transnationalisierung bzw. Kosmopolitisierung des Alltags öffnet, für eine Pluralisierung, die bislang allenfalls für ein Übergangsphänomen gehalten wurde. Widersprüche, Probleme und Konflikte, die normaler Bestandteil städtischen Lebens sind, müssen dabei nicht ausgeblendet werden. Es gilt aber auch, Perspektiven und Diskurse in den Mittelpunkt zu rücken, die bisher marginalisiert bzw. ignoriert wurden und die eine unverkrampfte, optimistische Sicht auf die Entwicklungspotenziale von Städten eröffnen. Denn allen Untergangsprophezeiungen zum Trotz überleben Städte gerade durch diejenigen, die kommen, um in ihnen zu leben.
Schon aus strukturellen Gründen sind „Parallelgesellschaften“ kaum vorstellbar, denn urbane Strukturen motivieren, ja nötigen Menschen auf unterschiedliche Weise und in den verschiedensten Kontexten zum Austausch. Netzwerke des Handelns, der Gastronomie und anderer Unternehmungen verbinden die Quartiere mit dem größeren Umfeld – gerade in migrationsgeprägten Stadtteilen über nationale Grenzen hinweg. Es zeigt sich, dass nur wenige Bewohnerinnen und Bewohner im jeweiligen Stadtteil geboren und aufgewachsen sind und längst nicht alle Zugezogenen für immer an Ort und Stelle bleiben. Das Leben folgt zum großen Teil einer unspektakulären Alltagspragmatik, die sich am konkreten Umfeld und sozialen Erfahrungskontexten orientiert und besonders bei MigrantInnen und ihren Nachkommen in transnationale Verbindungen eingebettet ist. Sie sind im Straßenbild sichtbar, organisieren in vielen Städten einen Großteil der gewerblichen Infrastruktur, tragen durch ihre sozialen und ökonomischen Aktivitäten wesentlich zur urbanen Lebensqualität bei. Ohne Übertreibung können wir von einer Art selbstorganisierter Integration sprechen.
Das Fallbeispiel Keupstraße in Köln
Obwohl politisch unerwünscht, ließen sich viele „GastarbeiterInnen“ nach und nach dauerhaft nieder und versuchten unter rechtlich erschwerten Bedingungen, sich städtische Orte anzueignen, neue zu schaffen und zu gestalten. In Köln bezogen in den 1970er Jahren gewerbetreibende MigrantInnen mit ihren quartiernahen Geschäften Ladenzeilen in Stadtvierteln, die im Zuge weltweiter ökonomischer Umstrukturierungsprozesse und Deindustrialisierung von einheimischen Gewerbetreibenden verlassen worden waren. Sie brachten damit wieder Leben auf die Bürgersteige und trugen entscheidend zur Sanierung heruntergekommener urbaner Räume bei, in denen soziale Notlagen vorher das Straßenbild bestimmt hatten und die von StadtplanerInnen bereits aufgegeben worden waren. In vielen Straßenzügen reihen sich nun gastronomische Betriebe, Dienstleister und Einzelhandelsgeschäfte mit Angeboten aus aller Welt aneinander. Beredtes Beispiel dafür ist die Kölner Keupstraße, die trotz ihrer Erfolgsgeschichte ihren zwiespältigen Ruf bis heute nicht los wird. Entstanden als Arbeiterviertel nach dem Zweiten Weltkrieg, entvölkert durch Deindustrialisierung und wiederbelebt durch MigrantInnen, die aus der Not eine Tugend gemacht und zahlreiche Geschäfte eröffnet haben, die längst über die Stadtgrenzen hinaus Kundschaft anziehen. Zunehmend auch alteingesessene Kölner. „Ein bisschen wie Urlaub hier“, beschreibt ein Passant die Atmosphäre.
Urbane Lebenswirklichkeiten als migrationssoziologisches Experiment: Durch MigrantInnen geprägte Quartiere oder Straßenzüge sind dabei nicht als Abbild ihrer „Herkunftskultur“ zu verstehen, sondern als ein lokales und spezifisches Arrangement, das die wechselhafte Lebenslage der EinwohnerInnen abbildet, ein Sinnbild für Urbanität darstellt. Es werden neue ökonomische Strategien entwickelt, unterschiedliche kulturelle Elemente miteinander in Beziehung gesetzt, Traditionen erfunden. Einzelhändler orientieren sich am Geschmack ihrer KundInnen vor Ort. Die Läden und Lokale, die Angebotspalette auf der Kölner Keupstraße sind vielfach ein Zugeständnis an die deutschen Vorstellungen von „Orient“ oder der „Mittelmeerkultur“; es sind Inszenierungen, in denen sich die unterschiedlichsten Elemente zu einem neuen Bild, zu einer neuen Tradition verbinden. Großstädtische Märkte, man denke nur an die 100 Wiener Märkte, denen Werner T. Bauer 1996 ein schönes Buch gewidmet hat, bieten ebenfalls die tägliche Erfahrung einer, „fast schon südländischen“ Vielgestaltigkeit.
Urbane Alltagswirklichkeiten und transkulturelle Praxen
Diese urbanen Entwicklungen spiegeln also längst eine von Lokalität und Globalität geprägte Alltagswirklichkeit wider. In den Städten wird an zahllosen Beispielen sichtbar, was in der Fachliteratur als transkulturelle Praxis bezeichnet wird, nämlich sich mehrfach überlagernde und überkreuzende soziale und kulturelle Erfahrungen. Sie belegen, wie die BewohnerInnen der Stadtquartiere grenzüberschreitende ökonomische, soziale und kulturelle Elemente und Netzwerke für sich nutzen, neu definieren und zu neuen Strukturen und Lebensentwürfen verbinden. Neben den beschriebenen orientalischen/mediterranen Inszenierungen in Einzelhandel und Gastronomie ist eine solche Mischung auch in der Jugendszene und ihren Trends – ob HipHop, Orient-Lounge oder „Kanak Sprak“ – nicht zu übersehen.
Auch bahnhofsnahe Stadtgebiete erzählen in vielen Großstädten die Geschichte vom Ankommen neuer BewohnerInnen. Wie alte Filme zeigen, dienten Bahnhöfe in den Anfangsjahren der Anwerbung als Haupttreffpunkt der „GastarbeiterInnen“, bildeten die imaginäre Verbindung zu ihren Herkunftsorten. Sie wohnten in Baracken auf Firmengelände oder in Sammelunterkünften, konnten kaum Deutsch und hatten wenig Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Beim damaligen Stand der Telekommunikation war auch die Verbindung zu Familienangehörigen zunächst unterbrochen. Unter diesen Umständen war der Gang zum Hauptbahnhof mit der Hoffnung verbunden, Bekannte aus der Herkunftsregion zu treffen. Bahnhöfe wurden zum Ort der Erwartung, der Begegnung und Kommunikation. In ihrem Umkreis entstanden bald die ersten Teehäuser, Speiselokale und kulturellen Treffpunkte. Der Bahnhof wurde so vom Ankunftsort zum Ausgangspunkt urbaner Veränderung.
Eine Kultur der Urbanität erfordert auch, die Vorstellung nationaler Homogenität und dauerhafter Sesshaftigkeit in Frage zu stellen, an den Alltagswirklichkeiten der Migrationsgesellschaft anzusetzen und die EinwohnerInnen selbst als ExpertInnen ihres Alltags zu betrachten. Es ist gerade die Fähigkeit, mit Ungewissheit, Widersprüchen und Konflikten umzugehen, also auch Kreativität, Improvisation und Selbstständigkeit, die großstädtisches Leben ausmachen.
Längst ist es an der Zeit, die Entwicklung solcher Stadtviertel als Erfolgsgeschichten von EinwanderInnen zu akzeptieren und die davon ausgehenden kulturellen und ökonomischen Impulse in die Aufmerksamkeit der Stadtpolitik zu rücken. Mit dem Motto: „Wien ist Vielfalt“ wurde ein Schritt in diese Richtung unternommen, falls es gelingt, über Bildungsmaßnahmen und interkulturelle Feste hinaus zu einer öffentlichen Anerkennung zu gelangen.
Erol Yildiz ist Professor für Interkulturelle Bildung und Migration an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Birgit Mattausch-Yildiz ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an den Universitäten Klagenfurt und Wien.
Beide sind Herausgeber des Bandes „Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource“, erschienen bei Birkhäuser 2008