Macht Wissen Kontrolle
Die inhaltliche und institutionelle Verstrickung von Migrationsforschung in die staatliche Migrationskontrolle ist selten zum Gegenstand politischer (Selbst-) Kritik und systematischer Analyse gemacht worden. Dies verwundert, da die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse über Migration für ihre effektive staatliche Kontrolle immer wieder betont wurde.
Staatliche Migrationskontrollen produzieren eine düstere Realität. Tausende Menschen sterben an den hochgerüsteten Grenzen der Industrieländer. Millionen leben und arbeiten in der EU ohne soziale und politische Rechte. Milliarden Euro geben reiche Staaten für Abschiebelager, militärische Grenzsicherung und biometrische Datenbanken aus. „Migrationsmanagement“ ist die Antwort auf globale Widersprüche in Reichtum und Lebenschancen.
Auch die wissenschaftliche Erforschung von Migration ist in den vergangenen 25 Jahren massiv ausgebaut worden. Mit Millionenbeträgen haben EU, Staaten und Stiftungen Dutzende neue Institutionen etabliert. Dazu gehören universitäre Einrichtungen wie das 1991 gegründete Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) oder COMPAS, das Centre on Migration, Policy and Society, etabliert 2002 an der Universität Oxford. Think Tanks wie die Migration Policy Group in Brüssel oder das Migration Policy Institute der Carnegie-Stiftung in Washington betreiben „praxisnahe“ Forschung. Zwischenstaatliche Organisationen wie die International Organization for Migration (IOM) oder das europäische International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), das 1993 in Wien die Arbeit aufnahm, haben eigene Forschungsabteilungen etabliert. MigrationsforscherInnen kooperieren in mehreren Expertennetzwerken, u. a. seit 1996 im globalen Metropolis-Network und seit 2004 im EU-Exzellenznetzwerk IMISCOE. Migrationsforschung und Migrationskontrollen expandieren parallel.
Positivistisch im strengen Sinn
Die inhaltliche und institutionelle Verstrickung von Migrationsforschung in die staatliche Migrationskontrolle ist selten zum Gegenstand politischer (Selbst-) Kritik und systematischer Analyse gemacht worden. Dies verwundert, da die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse über Migration für ihre effektive staatliche Kontrolle immer wieder betont wurde. Exemplarisch tut dies die 2004 von 120 Regierungen verabschiedete International Agenda on Migration Management. Sie formuliert die „gemeinsame Einsicht“, dass „effektive Politik“ „aktuelle, akkurate und vergleichbare Daten“ und „weitere Forschung zu allen Aspekten von Migration“ brauche (IAMM 2005: 25).
Die direkte Indienstnahme von Migrationsforschung für die Bedürfnisse staatlichen „Migrationsmanagements“ erklärt sich nicht zuletzt aus den Strukturen ihrer ökonomischen Reproduktion. Wie andere Disziplinen wird Migrationsforschung im Zuge neoliberaler Wissenschaftsreformen zu großen Teilen über befristete Projekte finanziert. Die daraus folgenden prekären Arbeitsverhältnisse und die eingeschränkten Spielräume von WissenschaftlerInnen in Think Tanks und internationalen Organisationen disziplinieren die Forschenden und schränken Möglichkeiten von Selbstreflexion ein. Doch entspricht die staatsnahe Arbeitsweise auch dem Selbstverständnis vieler WissenschaftlerInnen. So nennt etwa COMPAS, „effective and just migration management“ als Ziel der eigenen Arbeit und wirbt damit, einer der führenden Orte für „policy-relevante“ Forschung zu internationaler Migration zu sein. Der im Oktober 2008 von acht deutschen Stiftungen gegründete Sachverständigenrat für Integration und Migration strebt zwar eine „unabhängig kritische Begleitung“ von Migrationspolitik „durch die Wissenschaft“ an, will aber „handlungsorientierte Politikberatung“ betreiben.
Positivistisch im strengen Sinn bilden historische Konstrukte wie Volk, Nation und bürgerlicher Staat den nicht in Frage gestellten Rahmen angewandter Migrationsforschung. Politische Konzepte – etwa Grenzen, Staatsangehörigkeit, illegale Migration – gelten ihr als objektive Kategorien. Ein Denken, welches den herrschaftlichen Rahmen von Migration und ihrer Kontrolle grundlegend hinterfragt, erscheint aus Sicht einer solchen traditionellen Theorie „subjektiv und spekulativ“. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Migration, deren „Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist“, erscheint ihr als „parteiisch und ungerecht“ (Horkheimer 2003: 235). Unter den Bannern von „angewandter Forschung“ und „policy relevance“ wird der staatlich definierte Nutzen des produzierten Wissens über Migration zum Dogma und Qualitätskriterium erhoben.
Ansätze einer kritischen Migrationswissenschaft
Im Juni 2008 wurde in München das Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung gegründet (http://borderregime.eu). Vor dem Hintergrund der oft prekären Arbeitsverhältnisse und der Vereinzelung kritischer WissenschaftlerInnen will das Netzwerk Räume für Diskussionen, Selbstreflexion, und gemeinsame Projekte einer dezidiert kritischen wissenschaftlichen Praxis entwickeln. Im Mittelpunkt der zweiten Tagung des Netzwerks im Februar 2008 bei Berlin stand die Frage, wie kritisch-emanzipatorische Wissenschaft in diesem Bereich aussehen könnte. Wir schlagen hier eine historisch-materialistische Perspektive vor. Ihr Ausgangspunkt ist normativ. Er wird benannt durch Karl Marx' kategorischen Imperativ „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385). Die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung ist „nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt“ (Horkheimer 2003: 263). „Globale Bewegungsfreiheit“ und „gleiche Rechte für alle“ sind politische Konkretionen dieses Ausgangspunktes.
Kritische Migrationsforschung zielt nicht allein auf gelegenheitsbedingte Anlässe, z.B. die Einsätze der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX. Sie analysiert ihre Gegenstände auf drei Ebenen: Erstens in Verbindung mit strukturellen Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die Migration als „Problem“ erst konstituieren; zweitens in Bezug auf deren konjunkturelle, raum-zeitlich konkrete Materialisierungen; drittens müssen im Sinne einer cui-bono-Forschung die damit verbundenen Interessen und ihre strategisch handelnden politischen AkteurInnen untersucht werden. Nur eine dezidiert macht- und herrschaftskritische Perspektive kann die drei Analyseebenen zusammenzuführen und so die historischen Voraussetzungen von Migrations- und Grenzregimes und ihre hohe Stabilität erklären.
Kritische (Migrations-)Wissenschaft darf sich nicht auf den universitären Elfenbeinturm beschränken. Sie muss mit linken, antirassistischen, migrantischen, gewerkschaftlichen Bewegungen verwoben sein. Die Art dieser Verbindung blieb auf der Berliner Tagung umstritten. Soll sich kritische Migrationsforschung als relativ autonomer Teil des Kampfes um Hegemonie innerhalb des Subfelds Wissenschaft begreifen und eine kritisch-solidarische und dialogisch-vermittelte Distanz gegenüber Bewegungen, NGOs und linken Parteien halten? Oder kann nur eine Teil-Identität, ein direktes Engagement in und mit den Bewegungen und ihren Kämpfen wissenschaftliche Praxis zu einer kritischen machen? In dieser Sicht wäre eine Praxis außerhalb der herrschaftsförmigen Institutionen akademischer Wissensproduktion das entscheidende Kriterium einer kritischen Wissenschaft. Oder ist die dichotome Gegenüberstellung von akademischer Migrationsforschung und aktivistischer Praxis eine falsche, da sie die bürgerliche Hierarchisierung von objektiver Wissenschaft und partikularer Politik eher festschreibt als aufhebt?
Ambivalenzen oder die Kritik der Kritik
Angesichts von Tausenden Grenztoten und Millionen Illegalisierten sind die zentralen Fragen positivistischer Migrationsforschung (nach „verlässlichen Daten“, nach „effektiver Politik“) zynisch und falsch. Sie blenden den herrschaftlichen und antagonistischen Rahmen internationaler Migration und ihrer Kontrolle aus. Trotzdem muss ein kritischer Standpunkt Argumente und Positionen des „Mainstreams“ differenziert verstehen und bewerten (vgl. Gramsci 1991ff: 1275f). Es gilt, im Einzelnen nachzuweisen, wie seine Forschungsprobleme, Fragestellungen und Begriffe an diesen Rahmen gebunden bleiben und so die unmenschlichen Effekte der herrschenden Migrationspolitik legitimieren und stabilisieren. Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung steht dabei nicht außerhalb der falschen Verhältnisse. Sie muss ihre eigene Verstrickung als Teil anerkannter, institutionalisierter Wissensproduktionen in Universitäten, Stiftungen, Instituten oder NGOs reflektieren. Sie ist Teil moderner Wissenschaft, die als wissenschaftliche Technik einen Legitimationsmodus (staatlicher) Macht begründet (Poulantzas 2002: 85). Kritische MigrationsforscherInnen können sich ihrer Subjektivierung und Reproduktion in bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen nicht entziehen. Sie können jedoch radikal die Maßstäbe ihrer eigenen Praxis, ihre Grenzen und Folgen dekonstruieren. Ihre Kritik selbst muss Gegenstand von Kritik werden. Nur so können die herrschenden Begriffe und Kategorien – einschließlich jene der kritischen Migrationsforschung – bis an ihre Grenzen gedacht, und die damit verbundenen Praktiken verstanden und bestimmt negiert werden (vgl. Demirovic 2008: 29). Erst so können aus Kategorien Subjekte werden, aus MigrantInnen frei flutende Menschen.
Literatur
Demirović , Alex (2008): „Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik“. In: Ders. (Hg.): Kritik und Materialität, Münster. S. 9-40.
Gramsci, Antonio (1991ff): Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Brochmann / Wolfgang Fritz Haug. Berlin.
Horkheimer, Max (2003 [1937]): Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a.M. S. 205-269.
The Berne Initiative (2005): International Agenda for Migration Management. Bern. PDF Download (25.3.2009).
Marx, Karl (1973 [1844]): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“. In: MEW, Bd 1. Berlin 1973.
Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg.
Fabian Wagner promoviert prekär in Frankfurt/M. zur europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX. Arbeitsschwerpunkte: Materialistische Staatstheorie, europäisches Migrations- und Grenzregime.
Fabian Georgi promoviert an der FU Berlin zum Projekt eines internationalen Migrationsmanagements. Arbeitsschwerpunkte: Europäische und internationale Migrationspolitik, internationale politische Ökonomie, Kritische Theorie.
Beide sind aktiv bei reflect! Assoziation für politische Bildung und Gesellschaftsforschung und im Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.