Mayday! Oder: Die unmögliche Organisierung der möglicherweise Unorganisierbaren - eine Zwischenbilanz mit Ausblick
Sowohl in Wien wie auf europäischer Ebene ist es gelungen – wohl wegen der zunehmend verschärften Prekarisierungstendenzen – eine breitere Öffentlichkeit für den Begriff Prekarisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen und Ausschlüsse zu sensibilisieren. Überraschend schnell jedoch wurden die durch die sozialen Bewegungen entwickelten Begrifflichkeiten sowohl von bürgerlichen Medien wie auch durch (quasi)staatliche RepräsentantInnen aufgegriffen und – wenig verwunderlich – gegen die Intentionen der Widerständigen gewendet.
„Es geht darum, die Widersetzlichkeit als Akt der Gegenmacht zu entwickeln. Einer Gegenmacht, die zugleich Widerstand, Aufstand und konstituierende Macht ist. Was heißt es, zwischen diesen Momenten ein Verhältnis herzustellen? Wahrscheinlich sind wir im Moment noch darauf beschränkt, die Widersetzlichkeit selbst zu organisieren. Doch für die Multitude ist der Übergang zu den weiteren Momenten der Gegenmacht nicht weit.“ (Negri 2003: S. 62)
Der 1. Mai rückt näher und mit diesem Datum auch die mittlerweile beinahe obligatorische Frage nach der Durchführung und Organisierung des Euromayday 007. Begehren, Neugier und Kritik regen sich gleichermaßen – vielleicht ist die Zeit reif (vgl. Virno 2006) für eine subjektive Zwischenbilanz zweier Mayday-AktivistInnen, für eine historische und politische Retrospektive dieses unabgeschlossenen Versuchs – des Experimentierens mit neuen Formen – gegenüber der Gegenwart widerständig zu sein. Historisch verorten lässt sich die Entstehung des Euromayday-Prozesses über die Krise der traditionellen Organisationen der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung. Spätestens mit dem Ende relativ stabiler Klassenidentitäten im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und der daraus resultierenden Erosion einer „Norm mit unbefristeten Vollzeitarbeitsverträgen“, war auch die Möglichkeit der sozialstaatlichen Repräsentation in die Krise geraten. Ausgehend von den Erfahrungen der radikalen Linken in Italien und Frankreich wurden zur Jahrtausendwende Überlegungen angestellt, wie dem Aufbegehren prekär Arbeitender und Lebender politisch Ausdruck verliehen werden kann: Anders gesagt, wie kann die Menge, die sich selbst konstituiert, inmitten des Nicht-Ortes des Empire „gemeinschaftlich“ werden?
Multitude statt Trauermarsch
Aus einer aktivistischen Perspektive setzte die Idee des Euromayday an der Redefinition des 1. Mai als „Kampftag der ArbeiterInnenklasse“ an. Statt dem vereinheitlichenden und traurigen Auftreten der FunktionärInnen und ihrer Basis sollte eine lustvolle, bunte und laute Multitude prekärer AktivistInnen den vielfältigen Widerstand gegen die Zumutungen der Prekarisierung auf die Straße tragen und so diesen neuen Ort aufblitzen lassen: Sowohl für den Prozess der Vorbereitung wie auch auf der Mayday-Parade selbst fanden sich aktive Prekäre aus verschiedenen Milieus – traditionelle Bewegungslinke, politische KünstlerInnen, linke Intellektuelle, antirassistische AktivistInnen und andere – zu einem für alle Beteiligten überraschend produktiven und experimentierfreudigen „diffusen Netzwerk“ (vgl. Colectivo Situaciones 2003) zusammen, in dem sich auch die – notwendigen – Arbeitsteilungen nicht hierarchisch ausgestalteten. Dies ist auch über die Paradenvorbereitung hinaus bedeutsam, da es über die innerhalb der heterogenen Gruppe geknüpften „Netzknoten“ auch zu neuen Kooperationen darüber hinaus gekommen ist. Zumindest ein Stück weit wurde jener Aspekt der „politischen Multitude“ realisiert, von dem Toni Negri meinte, dass ihre Organisationsform zugleich ihr Inhalt wäre, dass also diese neuen Formen der Kooperation schon politischer Ausdruck der in ihr Aktiven sind.
Gleichwohl wurde nicht auf das Aufstellen von Forderungen verzichtet: Bedingungsloses Grundeinkommen sowie die Abschaffung der Schubhaft bzw. des Arbeitsmarktservices sind Forderungen, die im und aus dem Mayday-Prozess gestellt wurden und werden – was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich jede und jeder damit identifizieren muss. Offensichtlich entsprach es tatsächlich der neuen Form der Zusammenarbeit, dass keine langwierigen Diskussionen über nicht geteilte Forderungen geführt wurden. Mehr und vielfältigere Ausdrucksformen innerhalb, vor allem aber jenseits der Parade hätten wir uns – wie wohl auch alle anderen – schon erwartet. Das Spannungsfeld ist vielleicht jenes zwischen der Öffnung eines Raumes und der Vorbereitung konkreter Interventionen, oder, theoretisch gesprochen, zwischen Prozess und Ereignis. Im Folgenden möchten wir da-hingehend einen kurzen Anriss ambivalenter Erfolge und großer Probleme geben.
Ambivalenter Erfolg
Sowohl in Wien wie auf europäischer Ebene ist es gelungen – wohl wegen der zunehmend verschärften Prekarisierungstendenzen – eine breitere Öffentlichkeit für den Begriff Prekarisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen und Ausschlüsse zu sensibilisieren. Überraschend schnell jedoch wurden die durch die sozialen Bewegungen entwickelten Begrifflichkeiten sowohl von bürgerlichen Medien wie auch durch (quasi)staatliche RepräsentantInnen aufgegriffen und – wenig verwunderlich – gegen die Intentionen der Widerständigen gewendet; Begriffe wie „Flexicurity“ oder das mittlerweile berühmt-berüchtigte „abgehängte Prekariat“ deuten darauf hin: Im Handumdrehen soll die soziale Selbstorganisation der staatlichen Armutsverwaltung überantwortet werden. Besonders deutlich wird dies an den – von Parteien und Massenmedien – geführten zynischen Debatten um die geforderte Arbeitswilligkeit sowie die Bedarfsprüfung hinsichtlich des An-spruchs auf staatliche Grundsicherung. Von „weniger Staat“ keine Spur… Aber nicht nur die herrschaftliche Wendung emanzipatorischer Diskurse, sondern auch die Organisierung des Mayday selbst hat ihre Tücken: zum einen das schon beschriebene Verhältnis von organisatorischer Form und politischem Inhalt und zum anderen die transnationale Dimension und nicht zuletzt auch die soziale Zu-sammensetzung der im/um den Mayday aktiven Gruppierungen und AktivistInnen.
Alles transnational oder was?
Charakteristisch für die Transnationalität des Euromayday ist das – zumindest bis vor kurzem noch fehlende – transnationale Moment: So kam es zwar wohl zweimal jährlich zu obligaten Treffen, um sich über die Situation in den einzelnen Städten auszutauschen, die zu den Treffen angereisten AktivistInnen (oder vielleicht doch RepräsentantInnen) verhielten sich allerdings „wie 22 defensive FußballspielerInnen, die kein Tor erzielen wollen“ (O-Ton eines Teilnehmers). In den teilweise lähmenden Diskussionen um europäische Aufruftexte und in Streitigkeiten zwischen verschiedenen lokalen Mayday-Gruppen, blieb die notwendige Befragung des „Kommunen“, der Transnationalität selbst, der Verbindung zwischen der Debatte zur Prekarisierung und jener über die „Autonomie der Migration“ sowie die Repräsentationskritik oft ausgeklammert.
Dass eine Debatte über letzteres besonders wichtig (gewesen) wäre, verdeutlicht die im letzten Jahr in Brüssel (!) abgehaltene Pressekonferenz des Euromayday-Netzwerks – realiter einiger Gruppen im Alleingang – auf der undiskutierter Weise „gemeinsame“ Forderungen, unter anderem auch der „Schutz (sic!) von THC-KonsumentInnen“ gestellt wurden. Breiter diskutiert wurde hingegen die Umbenennung des Euromayday in „Mondomayday“; ob allein diese Namensverschiebung die begehrte Mondialisierung der Prekarisierungskämpfe mit sich bringen würde, sei dahingestellt. Um die theoretische Auseinandersetzung vor allem hinsichtlich politischer Strategien zu stärken sowie die Frage nach der Verbindung zwischen lokalen und transnationalen Kämpfen nun doch noch zu stellen, gründete sich eine Forschungsgruppe innerhalb des Mayday-Netzwerks (precarity-map.net).
„Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre...“
Eine unseres Erachtens nicht nur im Rahmen des Mayday zentrale Frage ist die soziale Zusammensetzung der Bewegung. Was so einfach und schön klingt – „die Vielheit als Vielheit denken und organisieren“ –, entpuppt sich in der sozialen und politischen Praxis als schwierig anzugehen: Ein diffuses „Wir“ spiegelt sich besonders im Inhaltlich-Politischen, die einzelnen (Vorbereitungs)Gruppen, sowohl lokal in Wien wie auch international, setzen sich zum überwiegenden Teil aus StudentInnen und AkademikerInnen zusammen. Wohl trifft die gesellschaftliche Tendenz der Prekarisierung alle Arbeits- und Lebensbereiche – AkademikerInnen ebenso wie MigrantInnen, den Putzmann oder die arbeitslose Schlosserin –, letztere sind jedoch anders und mit weitergehenden Konsequenzen durch die sich von „den gesellschaftlichen Rändern ins Zentrum“ ausbreitende Prekarisierung bedroht.
Zwar gibt es kein Patentrezept für das widerständig Werden der Erfahrung von Marginalisierung und Ausbeutung, bei allem Ausgehen von der je eigenen Erfahrung darf jedoch die Untersuchung „anderer“ sozialer Zusammenhänge nicht einfach ignoriert werden. Keine Lösung bietet die Einführung neuer vereinheitlichender Begriffe wie jener des „Prekariats“, der nicht nur in den Wiener Mayday-Aufruf Eingang gefunden hat. Ein Arbeitspapier des migrationspolitischen Frassanito-Netzwerkes (2005) bringt die Problematik auf den Punkt: „,Prekariat’ wird sogar zur Farce, wenn die radikale Linke sich über eine zunehmende Betroffenheit durch prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zum Hauptakteur zu verklären versucht. Vielmehr geht es darum, die Hierarchien in den Blick zu rücken, die heute der Zusammensetzung der lebendigen Arbeit ihre Gestalt verleihen – von Illegalisierten migrantischen Putzkräften bis zu temporär beschäftigten Computerfreaks –, und angesichts der Verschiedenheit der sozialen Bewegungsformen, ihrer Begehren und Wünsche, Prekarität nicht in eine neue Identität zu vereinfachen.“
Fragend vorangehen!
Als inhaltlich-politische Reaktion auf diese Probleme mag die besondere Bedeutung, die der Migration in den Vorbereitungen des Mayday 2006 in Wien beigemessen wurde, ein Schritt in die richtige Richtung sein. Sie befreit allerdings nicht von einer (erneuten) Infragestellung des sich konstituierenden „Wir“, der Auseinandersetzung mit fehlenden materiellen Ressourcen sowie der für Organisierung nötigen Zeit. Womit wir bei der Ressourcenfrage wären: Wie kann unter dem Aspekt der immer stärkeren Einbeziehung des ganzen Lebens in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang jene Zeit zurückerkämpft werden, die nötig ist, um politische Strategien zu entwerfen, sich zu vernetzen?
Nach dem Prozess der Konstituierung des Mayday und dem Lancieren von Begriffen und Thematiken gilt es nun, die Frage nach der politischen Strategie und Formen der Organisierung der möglicherweise Unorganisierbaren zu stellen. Erste Versuche, wie etwa die Workers Center als unabhängige gewerkschaftliche Anlaufstellen für prekäre ArbeiterInnen, Chefduzen.at, ein Forum zur Kommunikation und Vernetzung über das Internet sowie verschiedene Ansätze der „militanten Untersuchung“, Initiativen wie maiz sowie die andalusische LandarbeiterInnengewerkschaft SOC aber auch Kämpfe und Vernetzungen der Sans Papiers bieten Anknüpfungspunkte für die Organisierung von Gegenmacht. Ein Schritt in diese Richtung könnte eine geplante Konferenz sein, in der AktivistInnen und TheoretikerInnen oben genannter Zusammenhänge mit progressiven GewerkschafterInnen in einen produktiven Austausch treten sollen. Ob angesichts der kaum ihren Namen verdienenden „Reform“ des ÖGB tatsächlich Bereitschaft zu einem politischen Austausch „auf gleicher Augenhöhe“ gegeben ist, bleibt dahingestellt. Die Krise des ÖGB sollte die Beantwortung dieser Frage eigentlich erleichtern…
Es gilt also einerseits, mit neuen Formen politischer Artikulation zu experimentieren, andererseits dabei ständig zu versuchen, den Prozess über bestehende Grenzen hinaus zu erweitern: Denn die Chance der wirksamen Verbreiterung jeder sozialen Bewegung liegt in der Veränderung ihrer sozialen Zusammensetzung. Dabei muss die Diskussion um politische Strategien mit der ständigen Reflexion über ihre mögliche Aneignung durch Kapital und Staat einhergehen, um diese zu vermeiden. Preguntando caminamos!
Ver-, einge- und bearbeitete Literatur:
Negri, Antonio (2003): „Empire und die konstituierende Macht der Multitude. Interview mit Thomas Atzert und Jost Müller“. In: Atzert, Thomas/Jost Müller (Hg.): Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire. Berlin (ID-Verlag)
Colectivo Situaciones (2003): Que se vayan todos. Krise und Widerstand in Argentinien. Berlin (Assoziation A)
Nowotny, Stefan (2005): „Sans-Papiers: Extremzonen der Prekarität“. In: Kulturrisse 02/05
Frassanito-Netzwerk (2005): „Prekär, Prekarisierung, Prekariat?“. Unter: euromayday.at/006/texte/06frassanito.php
Virno, Paolo (2006): „Die Reife der Zeit. Zur Aktualität der Multitude“. In: Grundrisse 20
Martin Birkner und Birgit Mennel sind RedakteurInnen der grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte und AktivistInnen des Wiener Mayday. Sie leben und arbeiten. Auch in Wien.