Nachhaltigkeit und Aktualität. Zum Erfolg des politischen Dokumentarfilms aus Österreich.
Am Anfang des so genannten Dokumentarfilmbooms steht der Erfolg von Michael Moore. Zuerst „Bowling for Columbine“, vor allem aber seine populistische Bestandsaufnahme der Folgen des Terroranschlags vom 11. September, „Fahrenheit 9/11“. Schon die Filme Moores – und eine Reihe von anderen USPolit- Dokus wie etwa die Filme von Robert Greenwald oder von Eugene Jarecki – reagieren auf ein mediales Defizit: auf den Umstand, dass für liberale Ansätze im Mainstream der US-Medien (und damit sind vor allem die großen TV-Stationen gemeint) der Platz eng wurde, sodass man auf alternative Vertriebskanäle – ob im Kino oder auch im Internet – ausweichen musste.
Der Einschätzung, dass das Interesse am politischen Dokumentarfilm zunimmt, scheint derzeit niemand ernsthaft widersprechen zu wollen. Doch immer dann, wenn sich bestimmte Ansichten verselbständigen und – seltsamer Effekt der Wiederholung – als Wahrheiten kursieren, ist Skepsis angebracht. Unklar bleibt dabei nämlich nicht nur, was genau mit Politik gemeint ist, sondern auch welcher Art dieses Interesse ist. Wie verhält es sich mit einer filmischen Politik, wenn diese neuerdings mit Hang zur Aktualität agiert (in Kontrast zum eher trägen filmischen Produktionsprozess) – und sich nicht selten populistischer Mittel bedient, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen? So vermerkte der Filmpublizist Georg Seeßlen schon zu Beginn des vergangenen Jahres mit ziemlich gedämpfter Euphorie über den Polit-Dokuboom: „Die Renaissance des politischen Dokumentarfilms scheint momentan eher von einer diffusen Begegnung von Angebot und Nachfrage als von einem ästhetischen und politischen Projekt getragen.“
Gewiss ist zumindest, dass auch in Österreich ein verstärktes Angebot zu erkennen ist: 2005 kam eine Reihe von heimischen Dokumentarfilmen mit politischer Ausrichtung ins Kino und war auch noch ziemlich erfolgreich. Mit Hubert Saupers mehrfach prämierter Globalisierungsallegorie „Darwin’s Nightmare“ startete schon zu Beginn des Jahres ein Kassenmagnet. Über 130.000 Zuschauer sahen „We Feed the World“, Erwin Wagenhofers Auseinandersetzung mit den komplexen Verkettungen der Lebensmittelindustrie. Das hat noch kein anderer Dokumentarfilm hier zu Lande geschafft. „Operation Spring“ von Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber, eine minutiöse Aufarbeitung der justizialen Folgen des ersten österreichischen Lauschangriffs, entwickelte sich zum regelrechten Sleeper, der sich monatelang im Kinoprogramm hielt. Mit Michael Glawoggers Bilderreise zum Verschwinden der Arbeit, „Workingman’s Death“, und „Artikel 7 – Unser Recht!“ von Eva Simmler und Thomas Korschil, einer archivarischen Erkundung des Kärntner Ortstafelstreits, gab es noch zwei weitere Filme im Kino zu sehen, die grob dem politischen Bereich zuordenbar sind. Dieses Feld ist allerdings thematisch derart breit gefächert, dass es schwer fällt, darin einen dominanten Zug zu erkennen. Weder ist es möglich, von einem geeinten Vorgehen der Filmschaffenden zu sprechen, noch scheint es genügend Indizien zu geben, die auf ein spezifisches Publikumsinteresse hindeuten. Ist es vielleicht nur so, dass es ein „größeres Misstrauen gegen die Fiktion“ und „ein stärkeres Verlangen nach Wirklichkeit“ gibt – eine zugegebenermaßen recht allgemeine Einschätzung, die Denis Duclos und Valérie Jacq in „Le Monde Diplo- matique“ getroffen haben. Oder verdankt sich der so genannte Boom nicht eher nur einer größeren Verschiebung im medialen Haushalt? Denn vieles deutet darauf hin, dass das Kino in den letzten Jahren vermehrt zum „Auffangbecken“ aufklärerisch-investigativer dokumentarischer Arbeiten wurde – eine Domäne, die bis vor Kurzem noch zum festen Bestandteil des Fernsehens gehörte.
Mediale Defizite
Am Anfang des so genannten Dokumentarfilmbooms steht der Erfolg von Michael Moore. Zuerst „Bowling for Columbine“, vor allem aber seine populistische Bestandsaufnahme der Folgen des Terroranschlags vom 11. September, „Fahrenheit 9/11“. Schon die Filme Moores – und eine Reihe von anderen USPolit- Dokus wie etwa die Filme von Robert Greenwald oder von Eugene Jarecki – reagieren auf ein mediales Defizit: auf den Umstand, dass für liberale Ansätze im Mainstream der US-Medien (und damit sind vor allem die großen TV-Stationen gemeint) der Platz eng wurde, sodass man auf alternative Vertriebskanäle – ob im Kino oder auch im Internet – ausweichen musste. Morgan Spurlocks „Anti-Fastfood-Doku“, „Supersize Me“, zeigt in ihrer Reduktion auf eher krude montierte Interviewpassagen und das eigentliche Zentrum des Films, Spurlocks Selbstversuch, eine Erfolgsformel des amerikanischen Modells auf: Um ein Thema, das von gesellschaftlichem Belang ist, also möglichst viele Menschen in ihrem alltäglichen Selbstverständnis trifft, werden journalistisch aufbereitete Thesen gruppiert, die idealerweise noch mit dem subjektiven Einsatz des Filmemachers aufgewertet werden. „Supersize Me“ orientiert sich formal deutlich an Reality-TV-Formaten, wogegen „We Feed the World“ – um bei einem ähnlichen Sujet zu bleiben – dem Reportagehaften näher steht. Regisseur Erwin Wagenhofer verzichtet darauf, als Performer für die Glaubwürdigkeit seiner Argumente einzutreten. Er unterlässt es in seinem streng instruktiven Zugang aber nicht, Stellvertreter zu besetzen, Experten wie Jean Ziegler, dem UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung. In seinem Beharren darauf, das wirtschaftliche Regelwerk der westlichen Überschussproduktion nicht nur darzustellen, sondern gleichzeitig seiner ethischen Verantwortungslosigkeit zu überführen, bedient sich der Film linearer Bilderfolgen, die vor allem demonstrativen Charakter haben. Niemandem soll entgehen, dass der Brotberg für den Müll nur deshalb wächst, weil absurde industrielle Richtlinien eingehalten werden müssen. Wobei die Form von Globalisierungskritik, die hier bemüht wird, weniger politisch denn konsumentenpädagogisch ausgerichtet bleibt. Letztlich appelliert der Film an unser Kaufverhalten, wenn er den Qualitätsverlust unserer Lebensmittel beklagt.
Ausdauer und Akribie
Der Erfolg von „We Feed the World“ zeigt nicht zuletzt auf, dass eine globalisierungskritische Tendenz, die sich mit protektionistischen Argumenten trifft, längst zum Mainstream gehört. Nichtsdestotrotz scheint Wagenhofers Film im Kino besser aufgehoben zu sein. Hier erst findet er die Aufmerksamkeit, die ihn zum Ereignis macht. Ist es womöglich gar erst der institutionelle Ort, der Filmen wie „We Feed the World“ den Nimbus verleiht, eine alternative Sicht der Dinge zu zeigen? Oder liegt es am Publikum, das hier noch als Kollektiv adressierbar ist, als zivilgesellschaftliche Einheit? Eindeutiger lassen sich diese Frage im Falle von „Operation Spring“ und „Artikel 7 – Unser Recht!“ beantworten. Sowohl Schuster und Sindelgruber als auch Simmler und Korschil waren als Aktivisten gegen die schwarzblaue Regierungsbildung aktiv und fertigten interventionistische Arbeiten, die dann innerhalb des Kompilationsprogramms „Die Kunst der Stunde ist Widerstand“ auf der Diagonale 2000 gezeigt wurden. Ihre nunmehrigen Langfilme stehen in dieser Tradition, wobei dem kurzfristigen medialen Eingriff nun eine nachhaltigere und ungleich analytischere filmische Reflexion nachfolgt. „Operation Spring“ ist als mediale Gegenoffensive wirksam. Der Film legitimiert sich nicht zuletzt dadurch, dass er eine Auseinandersetzung mit einem Justizfall sucht, der den etablierten Medien in seinem ganzen Umfang skandalöserweise entgangen ist. Schuster und Sindelgruber, die mit viel Ausdauer – und mindestens ebensoviel Augenmaß – die Folgen des ersten Lauschangriffs thematisieren, schließen eine Lücke in der medialen Repräsentanz und wollen konkrete Reaktionen bewirken. Das Kino wurde dafür der passende Ort: zum Resonanzraum mit Langzeitwirkung. Im Unterschied zu „We feed the World“ verzichtet der Film auf polemische Verdichtungen. Seine Sachlichkeit ist der möglichst unparteiischen Darstellung einer komplexen Materie verpflichtet. Die Wirkung des Films liegt gerade in dem Umstand, dass er sich konzentrierter mit dem Sachverhalt auseinander setzt als alle anderen davor: Er sucht keine schnelle Antwort, sondern verlässt sich auf die Früchte einer ausufernden Recherche. Letzteres gilt auch für „Artikel 7 – Unser Recht!“, der weniger durch seinen Kinoeinsatz als durch die Weigerung des ORF, den Film auszustrahlen, für Diskussionen sorgte (vgl. auch den Text von Daniela Koweindl in dieser Ausgabe). Eine Weigerung, die umso unverständlicher scheint, als der Film die Auseinandersetzungen um die slowenische Minderheit in Kärnten zu einem beträchtlichen Teil mittels Archivaufnahmen des ORF rekapituliert. Laut Franz Grabner, Leiter der ORF-Kultur Dokumentarfilmredaktion, widerspreche der Film jedoch „in einigen Aspekten deutlich“ dem Rundfunkgesetz. Die Angelegenheit ist noch nicht ausgestanden, erst kürzlich richteten die Grünen eine parlamentarische Anfrage an Bundeskanzler Schüssel. So ärgerlich diese Haltung des ORF auch ist, zeigt sie doch umgekehrt auch, dass das Fernsehen vor dem, was es schon einmal ausgestrahlt hat, heute schamvoll zurückschreckt. Ein Dokumentarfilm wird zum Träger des Archivs der Anstalt – und die sendet ihn dann nicht: Deutlicher kann das Fernsehen nicht demonstrieren, dass es an der nachhaltigen Durchdringung politischer Komplexe kein Interesse mehr hat. Simmler und Korschils Verdichtung eines öffentlichen Bilderarchivs rettet somit paradoxerweise auch öffentliches Gut für die Allgemeinheit.
Repräsentatives Dilemma
Abgesehen von diesen journalistischeren Arbeiten verzeichnet aber auch jener Teil des heimischen Dokumentarfilmschaffens, der als Autorenfilm gilt, eine stärkere Hinwendung zu politischen Themen. Allgemein gesprochen steht in diesen Filmen der Attraktionswert der Bilder stärker im Vordergrund als die thematische Konkretion. Hier wird weniger auf ein mediales Defizit reagiert, als auf eine sinnliche Kinoerfahrung gezielt, die freilich sehr unterschiedliche Ausprägungen hat. Gemeinsam ist Arbeiten wie „Workingman’s Death“, Nikolaus Geyrhalters „Unser Täglich Brot“ oder auch Gerhard Friedls „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ allenfalls, dass sie einen betont weiten Ausschnitt der Welt suchen, ein Thema möglichst in seinem gesamten Facettenreichtum untersuchen wollen. Was unweigerlich in einem – mehr oder minder ausgeprägten – repräsentativen Dilemma resultiert, das sich dann in einer fragwürdigen Form der Ästhetisierung von Schwerarbeit („Workingman’s Death“), in einem ungerührten Staunen ob technologischer Eigenmächtigkeit („Unser Täglich Brot“) oder in divergierenden Bild- und Tonserien („Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?) ausdrückt. Was diese verstärkt ästhetisch ausgerichteten Filme mit den auf lokale Schauplätze eingeschränkten Arbeiten dennoch teilen, ist das Bedürfnis nach Verdichtung komplexer Sachverhalte, das in aktuellen Medien offenbar ungestillt bleibt. Der politische Dokumentarfilm erweist sich insofern als zunehmend beliebteres analytisches Gegenmittel zur schnell gelieferten Meldung.
Dominik Kamalzadeh ist Kulturjournalist („Der Standard“, „taz“) und Redakteur der Zeitschrift „kolik.film“