Netzkultur als “Constructive Technology Assessment”. 10 Jahre Medieninfrastruktur mit PUBLIC VOICE Lab

Kulturauftrag mit kommerziellem Standbein? PUBLIC VOICE Lab hat als Zwitterwesen in der österreichischen Medienkultur in den letzten zehn Jahren mehrfach sein organisatorisches Kleid gewechselt, um ohne Kulturförderung Projekte mit kultur- und gesellschaftspolitischem Anspruch umzusetzen. Dieser Beitrag versucht die Herausforderungen, Grenzen und Perspektiven auszuleuchten, unter denen medientechnische Kulturarbeit unabhängig von staatlichen Kulturetats möglich ist.

Kulturauftrag mit kommerziellem Standbein? PUBLIC VOICE Lab hat als Zwitterwesen in der österreichischen Medienkultur in den letzten zehn Jahren mehrfach sein organisatorisches Kleid gewechselt, um ohne Kulturförderung Projekte mit kultur- und gesellschaftspolitischem Anspruch umzusetzen. Dieser Beitrag versucht die Herausforderungen, Grenzen und Perspektiven auszuleuchten, unter denen medientechnische Kulturarbeit unabhängig von staatlichen Kulturetats möglich ist. Hierbei soll weder die öffentliche Hand aus ihrer Pflicht, Kulturarbeit zu unterstützen, entlassen, noch ein (neo)liberales Modell für dessen Finanzierung proklamiert werden: Der Fokus liegt auf den strukturellen Spuren und Effekten, die solche Modelle hinterlassen können.

Ein Rückblick auf die 1990er Jahre legt die Motivationslage dar, PUBLIC VOICE ins Leben zu rufen: Medienkonzerne erfüllen die Interessen des Kapitals, nämlich dessen stete Vermehrung, immer seltener gepaart mit demokratischen Ansprüchen, nämlich umfassend zu informieren und aufzudecken, jedenfalls zu oft im Genuss öffentlicher (Presse-)Förderungen. Klassische Technikfolgenabschätzung als kritische Beleuchtung neuer Technologien aus akademischer Perspektive war ein in die Jahre gekommenes Politikberatungsinstrument, griff jedoch nicht direkt in die Technikentwicklung ein. Medienkunst ändert die Perspektiven, persifliert mediales Verhalten und schafft mitunter neue, sozialverträgliche Technologien, baut jedoch keine nachhaltigen Strukturen auf, außer informelle Netzwerke.

Im Spannungsfeld Kultur und Wissenschaft waren neue Formen der Darstellung und Umsetzung gefordert, um für den Sektor der neuen Medien gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Dies sollte anhand von Forschungs- und Projektarbeit geleistet werden. Als Kulturprovider verstand sich PUBLIC VOICE nicht nur als Brückenkopf zur Datenbahn, die es noch zu gestalten galt, sondern auch als Infrastruktur für mediale und/oder künstlerische Projekte, und beteiligte sich auch selbst an Projekten mit künstlerischem Anspruch, etwa zur Ars Electronica 1995 oder beim Mediencamp im Sommer 2003.

Technikfolgenabschätzung als Leitidee

Technikfolgenabschätzung fand durch die verstärkte Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Forschung zunehmend Eingang in die Politikberatung. So veröffentlichte das Office for Technology Assessment (OTA), in den USA die bedeutendste Institution in diesem Umfeld, insgesamt 750 vollständige Assessments sowie tausende von Hintergrundpapieren und technische Memoranden, wobei viele Handlungsvorschläge - etwa jene zur Einführung von Computern in Schulen - direkt die US-Gesetzgebung beeinflussten, da im Advisory Panel Mitglieder aus dem US-Senat und Repräsentantenhaus saßen. Das von der “Netherland Organisation for Technology Assessment” (NOTA) in den 1980er Jahren entwickelte Konzept des “Constructive Technology Assessment” (CTA) fand im deutschsprachigen Raum kaum Anwendung, wo zur selben Zeit etwa mittels Technikgeneseforschung der Versuch unternommen wurde, Technikgeschichte und -entwicklung besser verstehen zu lernen. Ist das Ziel von CTA “to achieve better technology in a better society” (Schot/Rip 1997), so versucht es zum einen der Einschätzung entgegenzuwirken, Technikfolgenabschätzung würde grundsätzlich den technischen Fortschritt lediglich kritisieren. Zum anderen setzt CTA in einem frühen Stadium des Lebenszyklus von Techologien ein, in dem es noch ausreichend Einflussmöglichkeiten auf die Konstruktion von Technik gibt. “Im Mittelpunkt des CTA-Konzeptes steht die gesellschaftliche Gestaltung des technologischen Wandels ('Managing Technology in Society')” (Sunderman 1999). Als Mitte der 1990er Jahre das OTA geschlossen wurde, war dies auch ein Aufruf, nachhaltige und nicht-institutionelle Formen der Technikfolgenabschätzung zu entwickeln.

Wenn CTA versucht, “der Gesellschaft Möglichkeiten anzubieten, Bedarfs- und Akzeptabilitätskriterien in den technologischen Entwicklungsprozess einzubinden” (ebd.), erinnert dies durchaus an Zielsetzungen der Netzkultur, die einen kritischen, insgesamt jedoch bejahenden Umgang mit Kommunikationstechnologien provoziert. Die Methoden der CTA, “mit denen man rechtzeitig und kontrolliert mit neuen Technologien experimentieren kann (forceful sociotechnical demonstrators)”(ebd.), werden sich freilich insofern unterscheiden, als die Planbarkeit von unmittelbar verwertbaren und messbaren Ergebnissen nicht das Ziel von Kulturarbeit mit neuen Medien ist.

Steter organisatorischer Wandel

1994 wurden von Dieter Haacker, Reinhard Seidel und Roland Alton-Scheidl sowohl eine PUBLIC VOICE GmbH und von letzterem auch ein Forschungslabor gegründet. Die GmbH war in der Buchproduktion, beginnend mit dem Titel Österreich Online erfolgreich, wobei das Verlagsgeschäft 1998 als PUBLIC VOICE Report VerlagsgmbH & CoKG ausgelagert worden ist und das Labor Medienprojekte und Software-Entwicklung durchführte. Beide Organisationen waren unabhängig voneinander, und es gab später keine personellen oder finanziellen Beziehungen zwischen dem Buchverlag und dem Labor. Der Markenname PUBLIC VOICE wurde aus geschichtlichen Gründen geteilt (wie noch das Hausportal in der Kirchengasse 13 bezeugt, wo die GmbH bis 1999 aktiv war), und immer wieder gab es auch gemeinsame Projekte mit dem Verlag, wie beispielsweise das Internet-Handbuch für Senioren. Im Vorstand des Labors hatten Leute aus Kunst, Kulturmanagement, Mediengestaltung, Wissenschaft, Technik oder Wirtschaft mitgewirkt: Wolfgang Gantner (Gelatine), Arno Senoner (nea), Sabine Benzer (Saumarkt Feldkirch), Paul Murschetz (Uni Köln), Margit Lutowsky, Jaromil (dynebolic.org), Herbert Gnauer (Orange 94.0), Natasa Stajkovic, Thomas Fundneider, Thomas Hassan. 1997 und 1998 leitete Hermann Böckle die PUBLIC VOICE Medien-Dienste KEG, welche die Infrastruktur als Kulturprovider vorbereitete. Diese Gesellschaft wurde 1999 geschlossen; der Buchverlag bemüht sich 2004 um einen Ausgleich.

Am 1.1.2000 wurde von dem von Helmut Mark gegründeten THE THING Vienna die Betreuung von mehr als 80 Netzkünstlern und -initiativen übernommen. Wir vereinten die Flexibilität eines Verbandes von Kulturschaffenden mit dem Recht eines jeden Mitglieds, am Entscheidungsprozess in den Generalversammlungen teilzuhaben. Das Labor versuchte, die Anforderungen seiner Mitglieder nicht nur zu erfüllen, sondern mit ihnen auch Forschungsprojekte durchzuführen, ohne dass es von Forderungen der Teilhaber nach Profiterwirtschaftung abhängig wurde, da die Gewinne aus der Organisation nicht herausgezogen werden konnten. Dennoch war es uns möglich, Investitionen zu tätigen und strategisch wichtige Verbindungen einzugehen. So war PUBLIC VOICE Lab in dieser Phase Gründungsmitglied des Community Media Cluster Vienna oder des konsortium.Netz.kultur, Partner von Europe Online und pflegte projektbezogene Beziehungen zu Stadtverwaltungen wie Bologna, Antwerpen, Bremen und Wien, die alle in Telecities organisiert sind. Aus dem Verein THE THING Vienna, der unter der späteren Leitung von Marc Ries bis zum Jahr 2002 die thing-Seiten inhaltlich betreute, wurde das organisatorische Gerüst für das TEAM TEICHENBERG geschaffen, das mit PUBLIC VOICE Büroinfrastruktur teilt und unter der Leitung von Thomas Thurner Beratung und Anwendungen u.a. im Bereich e-Learning und Content Syndication umsetzt.

In einer Reihe kommerzieller Projekte hat PUBLIC VOICE Lab gezeigt, dass es mit gewinnorientierten Organisationen mithalten kann und diesen in manchen Aspekten sogar überlegen ist: Ohne den Druck von Investoren nach Gewinnerwirtschaftung überstand PUBLIC VOICE Lab ohne Einschnitte die IT-Depression. Es war nicht leicht, nach außen Professionalität und Kommerzialität darzustellen, jedoch non-profit zu arbeiten. In Projekten zur Mitbestimmung bei urbanen Planungsprozessen wurden neue Wege des Einsatzes neuer Medien erfolgreich demonstriert, die etwa im Rahmen der International Summer Academy 2002 on Technology Studies als Good Practice für Consensus Based Technology Assessment präsentiert worden sind.

Am ersten Januar 2003 veränderte PUBLIC VOICE Lab seine Rechtsform in eine Genossenschaft; Teilhaber sind mehrere Freie Radiosender und nahestehende Personen. Als “Internationaler Medienverbund registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung” gewährt PUBLIC VOICE Lab eine bessere Position bei der Einsetzung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen auf dem internationalen Markt. Gewinne jedoch bleiben innerhalb der Genossenschaft und sollen weder abgeschöpft noch veräußert werden. Die Genossenschaftsmitglieder, von denen eines nicht mehr als 20 Anteile halten darf, haben das Recht auf Mitbestimmung; ein Aufsichtsrat sowie ein Genossenschaftsverband üben Kontrollfunktionen aus.

Forschung & Providing

PUBLIC VOICE Lab gewann 1998 - 2003 als “KMF” (Kleine und Mittlere Forschungsorganisation) zahlreiche Ausschreibungen der EU-Kommission im “Information Society Technology”-Programm. Mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von EUR 500.000 wurden in internationalen Konsortien Projekte umgesetzt. Der Aufbau und Betrieb der Provider - Infrastruktur wurde mit einer Reihe von Projekten in Einklang gebracht, sodass Kulturprojekte mitbetreut werden konnten, für die es vielfach keine eigenständige Finanzierung gab. Nachdem im sechsten Rahmenprogramm der EU Kommission Forschungseinrichtungen mit mehreren hundert MitarbeiterInnen bevorzugt werden, wurden alternative Strategien entwickelt. Eine davon, nämlich als Provider für Kulturschaffende und Internet-Profis für den gesamten EU Raum aufzutreten, wurde u.a. wegen massiver Spam-Attacken und damit notwendigen hohen Investitionen für den Betrieb von Filtern abgesagt.

Netzkultur in der Krise?

Trotz beharrlichem Bemühen ist es nicht gelungen, eine adäquate Finanzierung der österreichischen Netzkultur durch den Bund zu erreichen; die Interessenvertretung konsortium.Netz.kultur blieb im Lobbying ohne Schlagkraft. Dass es weder in Österreich noch im EU-Raum eine nachhaltige Infrastruktur für eine lebendige Netzkultur, wie wir sie etwa in Kanada beobachten, gibt, darüber können einzelne, durchaus beachtliche Projekte, Initiativen, Festivals und Organisationen nicht hinwegtäuschen. Mit der Netzkultur-Krise sind auch angrenzende Bereiche des hybriden Kultursektors gefährdet: So ist etwa der Betrieb des Triton Verlages (welcher von PUBLIC VOICE Lab zuletzt unentgeltlich betreut worden ist) von der Einstellung bedroht.

In der Rolle als Early Adaptor neuer Technologien mit kritischer Reflexion wurden eine Reihe von nachhaltigen Netzwerken und Spin-offs gebildet. Mit StreamOnTheFly wurde eine Austauschplattform für Freie Radios geschaffen. Der Ausbildungssektor bekam Impulse mit dem InterMedia Lab Dornbirn oder dem Kompetenznetzwerk Mediengestaltung, in das mehrere Fachhochschulen eingebunden sind. Eine Weiterführung des PUBLIC VOICE Lab als Open Source Genossenschaft bzw. als Clearingstelle für Content ist geplant. Ein Spin-out mit den Ergebnissen des publicVoiceXML Projektes im Telefoniesektor sucht noch einen Investor. Das Engagement einzelner Mitarbeiter bei der Anwendung der Open Source Idee auf andere Gesellschaftsbereiche wirkt: etwa bei der Übertragung der Creative Commons Lizenz “Attribution - Share Alike” in das österreichische Rechtssystem, wofür die Österreichische Computergesellschaft als institutioneller Partner gewonnen werden konnte.

Links

old.pvl.at (2000-2002)
www.pvl.at/atex/mensch.mp3

Literatur

Schot, Johan; Rip, Arie (1997): The Past and Future of Constructive Technology Assessment. In: Technological Forecasting and Social Change, Band 54, Ausgabe 97/2-3, S. 251-268.

Seidel, Reinhard; Haacker, Dieter; Alton-Scheidl, Roland (1995): Österreich Online - Ein interaktives Handbuch. PUBLIC VOICE: Wien. Erscheinung bis 2003 von weiteren 10 Auflagen mit wechselnden Herausgebern und AutorInnen.

Sundermann, Karsten (1999): Constructive Technology Assessment. Bd. 1. In: Bröcher, Stephan; Simonis, Georg; Sundermann, Karsten, Handbuch Technikfolgenabschätzung, S. 119-128. sigma: Berlin.


Roland Alton-Scheidl ist Gründer und Vorstandsmitglied von PUBLIC VOICE Lab, Studiengangsleiter Intermedia/Mediengestaltung an der Fachhochschule Vorarlberg.