Romanistan

Der Begriff „Romanistan“ wird ursprünglich als der Name eines hypothetischen Landes oder einer Region, die vor allem von Roma bewohnt und regiert wird und ihnen Autonomie und Unabhängigkeit garantiert, verwendet. Aber Romanistan ist auch metaphorisch zu verstehen – als die geistige Heimat der Roma, als fiktiver Ort mit ebenso fiktiven Gemeinsamkeiten und spirituellem Zusammenhalt.

Ein Projektversuch in unübersichtlichem Gelände. 

Der Begriff „Romanistan“ wird ursprünglich als der Name eines hypothetischen Landes oder einer Region, die vor allem von Roma bewohnt und regiert wird und ihnen Autonomie und Unabhängigkeit garantiert, verwendet. Aber Romanistan ist auch metaphorisch zu verstehen – als die geistige Heimat der Roma, als fiktiver Ort mit ebenso fiktiven Gemeinsamkeiten und spirituellem Zusammenhalt.

Zum antirassistischen Kultur-Kooperationsprojekt Romanistan

In dem von der IG Kultur Österreich gemeinsam mit Roma-Kulturvereinen und -Organisationen aus mehreren europäischen Ländern organisierten Projekt wird der Versuch unternommen, den Begriff in digitalen Räumen zu verorten: Romanistan im WorldWideWeb hat nichts mehr mit Territorien zu tun, Romanistan ist plötzlich überall und wird von Roma und Nicht-Roma „bewohnt“ und „regiert“, die Autonomie ist inhärent. Die Projektpartner sind aus Wien (Roma Kulturzentrum Wien), Barcelona (FAGIC) und Berlin (Amarodrom). Mehr als 50 Prozent der in diesen Ländern lebenden Menschen gaben bei einer Umfrage an, Roma nicht als NachbarInnen haben zu wollen. Dieses negative Bild der Roma und die Suche nach Möglichkeiten, wie diesen Zuschreibungen vonseiten der Roma begegnet werden kann, ergibt den inhaltlichen Teil des Projektes.

Mit der Platzierung von Romanistan in der digitalen Welt durch Roma-Organisationen aus verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen Religionen und mit vielfältigen Interessen wird der Versuch unternommen, die Fremdzuschreibung durch Selbstzuschreibung zu verändern. Zentrale Instrumente sind die Videointerviews, die das Roma Kulturzentrum Wien dazu produziert hat und die auf seiner Website und im Facebook zu finden sind.

Romanistan kann nicht die Situation der Not leidenden Roma auf der Welt unmittelbar verbessern. Dies würde nicht den Kompetenzen der beteiligten Initiativen entsprechen, denn diese liegen in den Bereichen der Selbstorganisation, der demokratischen und kulturellen Partizipation und der Kulturarbeit. In Österreich arbeitet für den Verein Roma Kulturzentrum Wien der in Serbien aufgewachsene Musiker Nenad Marinkovic an dem Projekt. Er ist 2003 zum Studium an der Musikuniversität nach Wien gekommen. Die Arbeitserlaubnis für dieses Projekt würde laut Ausländerbeschäftigungsgesetz unter eine Ausnahmebestimmung für EU-Projekte fallen. Die zuständige Stelle bei der Stadt Wien wollte aber die gesetzlich garantierte Ausnahme nicht gelten lassen, während das AMS die Zulässigkeit zugestand. Wir mussten das Problem letztendlich über den „Studentenstatuts“ lösen, es wäre allerdings interessant gewesen, die Stadt Wien mit juristischen Mitteln auf den rechten Weg zu bringen.

Wege und Ziele des Projekts

Eines der Projektziele ist es, das Vereinsprofil des Roma Kulturzentrums Wien in Richtung nationale und internationale Vernetzung mit einem Fokus auf antirassistische, emanzipatorische Kulturarbeit zu entwickeln. Projektinhalt ist aber der Weg zu diesem Ziel, der Prozess, der zur gleichberechtigten und selbstbestimmten Partizipation führt. Die Mittel, die das Roma Kulturzentrum Wien gewählt hat, waren in der Einstiegsphase eine Konferenz und Workshops, darauf folgten eine Video-Interviewreihe und die Installierung der Facebook-Seite Romanistan als Vernetzungsplattform.

Der Vernetzungsgedanke funktioniert bisher nur ansatzweise. Das Definieren und Verfolgen gemeinsamer Ziele kann auf keine gewachsene Struktur zurückgreifen. Die Interessen der autochthonen und der allochthonen Roma divergieren vor allem dort, wo die einen bereits zufrieden stellende Ziele erreicht haben, die anderen aber ausgeschlossen sind. Rudolf Sarközi vom Kulturverein österreichischer Roma hat dies bei der Eröffnungskonferenz von Romanistan anschaulich auf den Punkt gebracht, indem er sinngemäß meinte, „dass nur eine bestimmte Anzahl von Äpfel im Korb sei, und wenn immer mehr Vereine kämen, die Äpfel nicht mehr reichen würden“. Wir werden es in der Projektlaufzeit nicht mehr schaffen, neue Apfelbäume zu pflanzen, aber den Boden für den Obstgarten wollen wir doch noch gerne vorbereiten.

Zwei Beispiele für Veränderung

Nenad Marinkovic möchte seinen privaten Hintergrund und seine persönliche Veränderung im Laufe dieses Projektes an zwei Beispielen festmachen: „Als ich vor Kurzem in Belgrad war, fuhr ich mit meinem Freund und seinem Kind im Auto. Beim Zurücksetzen des Wagens hätte mein Freund beinahe einen Fußgänger übersehen, aber sein sechsjähriger Sohn rief: ,Pass auf! Du überfährst einen Zigeuner!‘ Es war das erste Mal, dass ich darüber nachdachte, warum ein Sechsjähriger zwischen einem Fußgänger und einem ,Zigeuner‘ unterschied. Der Begriff war ganz selbstverständlich, spontan und fast ,unbewusst‘ benützt worden. Aus einfachem Hass kann er nicht entstanden sein. Die Erfahrung aus dem Arbeitsprozess im Rahmen von Romanistan hat mich zu einer neuen Nachdenklichkeit geführt: Wie kommt es, dass ein kleines Kind bereits den Begriff ,Zigeuner‘ mit bestimmten Eigenschaften in Verbindung bringt? Ich hatte offensichtlich meinen Blick verändert und diese Situationen anders bewertet als früher.

Wer ,Zigeuner‘ ausspricht, denkt an minderwertige, schmutzige und ungebildete Personen, BettlerInnen, Diebe und VagabundInnen. Bei der oben geschilderten Episode erinnerte ich mich meiner Schulzeit in Belgrad. Meine Schule lag in einem Stadtteil von Belgrad, der Zemun heißt und in der eine Roma-Siedlung liegt, die ,Zigeunerlöcher‘ genannt wird. In meiner Klasse waren wir 18 Roma-Kinder und 17 Nicht-Roma. Dies war eine ungewöhnliche Zusammensetzung, da selbst in Zemun meist nur vier bis fünf Roma-Kinder in den Klassen waren.

Die Roma von Zemun arbeiteten an einem Flohmarkt, der sehr beliebt war, da dort Waren aus dem Ausland zu erhalten waren. Sie unterschieden sich von den anderen Roma in Belgrad, da sie Moslems waren und dadurch andere Bräuche hatten. Ich war der einzige Rom in der Klasse, der nicht aus der Siedlung kam und nicht Moslem war. Ich war auch der einzige Rom, der im Park mit Nicht-Roma-Kindern spielte und Orte aufsuchen konnte, an denen Roma-Kinder unerwünscht waren. Meine Lehrerin war sehr bemüht, Kinder mit Lernschwierigkeiten zu unterstützen, und ich nahm sie als unvoreingenommen und inkludierend wahr, während die Roma in der Nebenklasse von ihrer Lehrerin offen diskriminiert wurden.

Für meine MitschülerInnen aus der Roma-Siedlung war es sicher nicht leicht, sich in der Schule zurechtzufinden. Sie wurden von den anderen Kindern verspottet und ausgegrenzt. Ihre moslemischen Namen klangen anders, mit der Sprache hatten sie Schwierigkeiten, und aufgrund der mangelnden städtischen Infrastruktur in der Siedlung kamen sie oft schmutzig zur Schule. Ein Großteil der Kinder hat die Schule früh verlassen, nur ein paar haben die Grundschule abgeschlossen. Wer zu Hause keine Hilfe und Motivation beim Lernen erhielt, schaffte es nicht. Einige von ihnen mussten bereits mit zehn Jahren zum Familienunterhalt beitragen und verkauften Zigaretten in der Stadt. Aufgrund der materiellen Bedingungen war es sehr schwer für sie, die sozialen Verhältnisse von Zemun zu überwinden, und kaum einem/r ist es gelungen.

Es ist schwierig, ohne eine abgesicherte materielle Basis zu leben und unter solchen Bedingungen eine Ausbildung zu Ende zu führen. Wer in sicheren Verhältnissen lebt, mag das nur schwer nachvollziehen können, aber es ist das Schicksal von sehr vielen Roma. Ich hoffe, dass sich die vorherrschende Meinung von Roma verändern wird, aber das kann erst dann geschehen, wenn auch sie unter menschenwürdigen Bedingungen leben können und ihnen die gleichen Chancen geboten werden, damit sie Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Wohnungen erhalten.“

Links

http://www.romakult.org
http://www.romanistan.net

Nenad Marinkovic und Gabriele Gerbasits arbeiten im Rahmen des antirassistischen Kultur-Kooperationsprojekts Romanistan für die IG Kultur Österreich.