Von der Roten Armee befreit
Auf einer Konferenz in Karlsruhe (das Thema: "Postkommunismus") habe ich in meinem Vortrag unter anderem auch den folgenden Satz gesagt: "Man soll auch nicht vergessen, dass Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde." Nach dem Vortrag fragte mich eine Frau aus dem Publikum, was ich damit eigentlich gemeint hätte?
Es war so: Auf einer Konferenz in Karlsruhe (das Thema: "Postkommunismus") habe ich in meinem Vortrag unter anderem auch den folgenden Satz gesagt: "Man soll auch nicht vergessen, dass Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde." Nach dem Vortrag fragte mich eine Frau aus dem Publikum, was ich damit eigentlich gemeint hätte? – Nichts Besonderes, bloß eine historische Tatsache, die immer seltener erwähnt werde. Das sei doch keine historische Tatsache, antwortete sie. Es sei nämlich bekannt, dass das, was dort und in ganz Osteuropa 1945 passiert ist, gar keine Befreiung, sondern nur eine neue Okkupation war. Erst 1989 mit dem Fall des Kommunismus sei die echte Befreiung gekommen.
Das Publikum schien dieser Bemerkung zuzustimmen. So auch der nächste Redner, ein rumänischer Stararchitekt. Seinen Vortrag begann er mit einer auf mich bezogenen Vorbemerkung: "I disagree entirely with all the previous speaker has told." Er versteht nämlich seine Mission als Architekt im postkommunistischen Rumänien auch im Sinne der großen Befreiung von 1989. So will er auf den breiten Alleen Bukarests, deren Entstehen bekanntlich Ceausescus Größenwahn zu verdanken ist, riesige orthodoxe Kirchen bauen lassen. Um, wie er sagt, den Menschen den public space zurückzugeben, der ihnen von den Kommunisten weggenommen wurde.
Zurück zu Auschwitz, das 1945 von der roten Armee okkupiert wurde. Der Logik des Schwarzbuch des Kommunismus folgend, müsste dann das, was dort nach 1945 passiert ist, viel schlimmer gewesen sein als all die nazistischen Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Die systematische Vernichtung von rund sechs Millionen Juden und anderen "Untermenschen" mag zwar schrecklich gewesen sein, doch im Vergleich zu dem, was die Kommunisten in ihren Gulags angerichtet haben, ist das doch das kleinere Übel, nicht wahr? Stalin war ein größerer Massenmörder als Adolf Hitler. Außerdem war der Letztere selbst ein Opfer des Kommunismus. Dass er von der Roten Armee in den Selbstmord getrieben wurde, ist auch eine historische Tatsache. Doch das ist nicht alles. Nach dem neuesten Buch über Mao (Jung Chang: Mao – The Untold Story) war dieser direkt oder indirekt für den Tod von über 70 Millionen Menschen verantwortlich: ... the greatest mass murdering tyrant of the 20th century, worse than Hitler, Stalin and Pol Pot combined.
Es ist ein Fortschritt geschehen. Historische Wahrheit ist exakt wie Mathematik geworden. Siebzig ist mehr als sechs und zwar fast zwölf mal. Kommunismus ist schlimmer als Nazifaschismus und zwar mehr als zwölfmal. Auschwitz wurde erst gestern befreit und zwar vom freien Markt, von den Kräften der totalen Privatisierung, der neokolonialistischen Expansion, kurz vom aktuellen liberaldemokratischen Kapitalismus, dessen simple-minded, moralistisches Geschichtsverständnis der größte Holocaust-Verleugner unserer Zeit ist.
Sie fragen sich sicherlich, was ich der Frau aus dem Publikum letztendlich geantwortet habe. In alter kommunistischer Manier übte ich natürlich Selbstkritik: Nein, Auschwitz wurde nicht 1945 von der Roten Armee befreit. Auschwitz ist noch immer nicht befreit worden.