Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt: zum Projekt eines Archivs der Migration

„Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“, schreibt Michel Foucault (Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1992, 187). Foucault bezieht sich hier explizit nicht auf die Einrichtungen, die üblicherweise als Archive bezeichnet werden – aber er beschreibt präzise ihre Funktion.

„Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“, schreibt Michel Foucault (Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1992, 187). Foucault bezieht sich hier explizit nicht auf die Einrichtungen, die üblicherweise als Archive bezeichnet werden – aber er beschreibt präzise ihre Funktion, wie auch die Funktion des „kulturellen Erbes“ im Allgemeinen.

Dieses Verständnis des Archivs unterscheidet sich vom politischen Alltagsgebrauch dieses Begriffs, demgemäß es in erster Linie darum geht, dass ein Archiv durch Sammlungstätigkeit das kulturelle Erbe erhält und damit so gut wie möglich das abbildet, was schon da ist und gemeinhin als Geschichte verstanden wird. Aber wie bei Erbfolgen im Allgemeinen stellt sich auch beim kulturellen Erbe die Frage, wer erbberechtigt ist und welches Erbe als wertvoll angesehen wird.

Das sind keine besonders neuen Erkenntnisse, sondern etwa im Bereich der Kulturwissenschaften eher Banalitäten. Die Aussage, dass Geschichte und daher auch kulturelles Erbe eine Konstruktion der Gegenwart ist, lockt keinen einigermaßen konstruktivistisch gebildeten Hund hinter dem Ofen hervor.

Nur in der offiziellen Praxis hat sich das noch nicht herumgesprochen. Da wird zwar betont, wie wichtig das kulturelle Erbe für kollektive Identität ist, aber wiederum entsteht der Eindruck, dass eine solche Identität ohnehin vorhanden oder zumindest klar zu definieren ist und nur der Bestätigung und Konsolidierung bedarf. Die österreichische Identität etwa lässt sich problemlos mithilfe allseits bekannter kultureller Errungenschaften illustrieren. Oder in kritischerer Absicht auch mit den Brüchen im österreichischen politischen System in Verbindung bringen, insbesondere mit dem Nationalsozialismus.

Verdrängt wird dabei konsequent die Bedeutung und Identität von denjenigen, deren Lebens- und Familiengeschichten durch andere Diskontinuitäten geprägt sind, also insbesondere von Migrant_innen, die zwischen unterschiedlichen Konstruktionen ihrer Herkunfts- und Aufenthaltsidentitäten einen eigenen Platz definieren. In Überlegungen zur österreichischen oder europäischen Identität fehlt zumeist jede Anerkennung dieser Biografien; stattdessen wird die Forderung nach Übernahme der jeweils herrschenden Kultur gestellt.

Dies drückt natürlich einen Machtanspruch aus und zugleich die Unfähigkeit (oder den Unwillen), anzuerkennen, dass sich die Identität Österreichs und Europas durch Migration entscheidend verändert hat. Gegen diese Hegemonie gilt es anzugehen. Nicht zuletzt im Umgang mit der Vergangenheit, mit der Geschichte.

Etwa durch die Schaffung eines Archivs der Migration, also einer Institution, die durch ihre Existenz bestehende archivarische Institutionen in Frage stellt. Und damit erstens als Archiv in der alltäglichen Verwendung des Wortes dient, als systematische Sammlung dessen, was es an Dokumenten und Artefakten von Migration bisher verstreut in Privatbesitz gibt – und damit als dringend benötigte Grundlage für wissenschaftliche Arbeiten zur Migrationsgeschichte. Und zweitens als politische Intervention in eine Geschichts- und Identitätspolitik, die durch Verschweigen wesentliche Teile der Bevölkerung unsichtbar macht.

Anmerkung

Das Projekt Archiv der Migration wird im Rahmen der wienwoche erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.