Zwischen der Skylla des Stillstands und der Charybdis des Ökonomismus
Unter dem Slogan „Österreich darf nicht sitzen bleiben“ soll im Herbst 2011 das vom Unternehmer und ehemaligen SPÖ-Politiker Hannes Androsch initiierte Volksbegehren Bildungsinitiative die Debatte um eine Reform des österreichischen Bildungssystems auf ein neues Level heben. Doch inwiefern sind die hier artikulierten Forderungen dazu in der Lage, Grundlegendes an besagtem System und seiner sozialen Selektivität zu verändern?
Unter dem Slogan „Österreich darf nicht sitzen bleiben“ soll im Herbst 2011 das vom Unternehmer und ehemaligen SPÖ-Politiker Hannes Androsch initiierte Volksbegehren Bildungsinitiative die Debatte um eine Reform des österreichischen Bildungssystems auf ein neues Level heben. Doch inwiefern sind die hier artikulierten Forderungen dazu in der Lage, Grundlegendes an besagtem System und seiner sozialen Selektivität zu verändern? Über diese und ähnliche Fragen sprachen die Kulturrisse mit dem Bildungssoziologen Ingolf Erler.
Kulturrisse: Stärker noch als in anderen Ländern divergieren in Österreich die Bildungschancen von Kindern in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft. Welche Faktoren sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung?
Ingolf Erler: Wenn in Österreich ein Kind geboren wird, lassen sich dessen Bildungs- und Berufschancen mit einigen Parametern gut abschätzen: Beruf, Bildung und Einkommen der Eltern, Geschlecht, Wohnort, ethnische bzw. religiöse Zugehörigkeit. Im skandinavischen Modell des Wohlfahrtsstaats werden Lebenschancen von Kindern als gesellschaftliche Aufgabe gesehen. In Mitteleuropa ist dafür in erster Linie die Familie verantwortlich. Unbeachtet bleibt, inwiefern sie dazu überhaupt in der Lage ist. Betrachten wir nur einmal die ungleiche finanzielle Ausstattung. In Österreich beträgt die Kinderarmutsrate beachtliche 10,7%. Davon betroffen sind vor allem Kinder von AlleinerzieherInnen, von Arbeitslosen, mit mehr als zwei Geschwistern und/oder mit Migrationshintergrund.
Wenn Kinder in die Schule kommen, sind sie schon von ihrem bisherigen sozialen Umfeld geprägt. Die Schule macht aus den Kindern Schulkinder, indem sie ihre Werte den Kinder einschreibt. Dabei müssen Schulkinder die Codes lernen, die von der Schule erwünscht sind und positiv bewertet werden. Das Schul- und Unterrichtssystem reproduziert, vermittelt und bewertet eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Kultur, es orientiert sich an den herrschenden Normen und Idealen. Je nach sozialer Herkunft bringen SchülerInnen und Studierende unterschiedliche Erfahrungen darüber mit. Diejenigen SchülerInnen, die nun durch ihr soziales Umfeld bereits in die gewünschte legitime bürgerliche Kultur sozialisiert wurden, haben einen Vorsprung gegenüber denjenigen, die diese Kultur von Grund auf erlernen müssen. Es ist auch nicht unerheblich, ob die Eltern als AkademikerInnen grundsätzlich davon ausgehen, dass das Kind studieren wird, oder ob sie mit der Schule vor allem negative persönliche Erfahrungen verbinden und wenig Sinn darin sehen. Kinder aus unterprivilegierten Familien empfinden die Schule daher mehrfach als einen belastenden Ort. Dort erleben sie soziale Ausschlusserfahrungen. Hochkultur und bürgerliche Bildung spielen in ihrer Alltagswelt nur einen geringeren Stellenwert. Bildungsanstrengungen werden von ihrem sozialen Umfeld weniger gratifiziert, was sich letztlich wieder negativ auf den Schulerfolg auswirkt.
Ein nationales Spezifikum ist auch die große Bedeutung von Titeln und Zertifikaten. Es ist bekannt, dass Schulabschlüsse an Wert verlieren, wenn sie von vielen Personen erreicht werden. Diese „Titelinflation“ hat klare Konsequenzen. Die TitelinhaberInnen werden mit allen Mitteln versuchen, den Zugang zu den begehrten Titeln zu erschweren, um ihre Vormachtstellung aufrecht erhalten zu können.
Bezüglich des Faktors „ethnische Zugehörigkeit“ ist es ja so, dass gerade in Wien ein sehr hoher Prozentsatz der SchülerInnen mittlerweile einen sogenannten „migrantischen Hintergrund“ hat. Was würde es aus deiner Perspektive brauchen, um die seitens des Volksbegehrens eingeforderten „fairen Bildungs- und Berufschancen“ für MigrantInnen gewährleisten zu können?
Es gibt sicher einige spezifische Bereiche, die MigrantInnen stärker betrifft als Autochthone. Das wären die vielzitierten Fragen des Spracherwerbs oder auch Formen rassistischer Diskriminierung. Im Großen und Ganzen ist die Kategorie „MigrantInnen“ im Bildungsbereich aus meiner Sicht aber problematisch. Denn wo liegt die magische Grenze, die eine/n „MigrantIn“ von einem/r „ÖsterreicherIn“ unterscheidet? Gleichzeitig lassen sich Menschen mit „migrantischem Hintergrund“ auch nicht zu einer homogenen Gruppe zusammenfassen. Immerhin zählen dazu AkademikerInnen, die politisch geflüchtet sind, genauso wie jene, die in internationalen Organisationen arbeiten. In die Gruppe fallen Personen, die nach Österreich gekommen sind, um letztlich Bauarbeiten zu verrichten, wie solche in der Geschäftsführung multinationaler Konzerne usw. Natürlich unterscheiden sich diese Personen in ihrer Bildungsbeteiligung und in ihrem Bildungserfolg untereinander stärker als gegenüber den ÖsterreicherInnen. Ein sinnvoller Vergleich lässt sich damit nur ziehen, wenn man Personen mit ähnlichem Hintergrund vergleicht, also indem man sie nach dem Beruf bzw. Bildungsstand der Eltern aufteilt.
Welche Rolle spielt unter diesen Bedingungen noch das, was u.a. der französische Soziologe Pierre Bourdieu bereits vor Jahrzehnten als die „Illusion der Chancengleichheit“ bezeichnete?
Die bildungssoziologischen Arbeiten von Bourdieu haben vor allem deshalb einen so hohen Stellenwert erlangt, weil es ihm und seinen MitautorInnen gelungen war, den Blick über das Selbstverständliche hinaus zu eröffnen. Für die breite Masse der Bevölkerung galt und gilt das Bildungswesen als Ort, an dem Kindern entsprechend ihrer Begabung und Leistung Chancen und Perspektiven für ihren weiteren Lebensweg eröffnet werden. Auch in den Bildungswissenschaften dominiert die Vorstellung, Bildung würde vor allem die Selbstentfaltung der Menschen fördern und soziale Ungleichheiten nivellieren. Die sozialen Tatsachen sprechen im Gegensatz dazu jedoch eine andere Sprache: Die Schule, die Universität oder die Erwachsenenbildung reduzieren soziale Ungleichheit nicht, sondern verstärken sie noch. So reproduziert das Schul- und Bildungssystem die soziale Herkunft der Familie weit stärker, als dass es auf individuelle Neigungen und Leistungen einzugehen imstande wäre. Und dass Schule tatsächlich die Persönlichkeiten der Kinder entfalten würde, muss in vielen Fällen wohl bezweifelt werden. Bildung und Schule sind Produkte der Geschichte und spezifischer Gesellschaften, die sich unter ganz bestimmten kulturellen und sozialen Voraussetzungen entwickelt haben. So sind die Inhalte, die in der Schule vermittelt und geprüft werden, keine natürlich vorgegebenen Inhalte, sondern in einem bestimmten historisch-kulturellen Machtzusammenhang entstanden.
Was sind die zentralen institutionellen Ursachen der hohen sozialen Selektivität des österreichischen Schulsystems und welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass hierzulande die Trennung der SchülerInnen bereits nach vier gemeinsamen Volksschuljahren erfolgt?
Hinter dieser Struktur steht die Idee, dass Kinder entsprechend den Anforderungen der Schule zugeteilt werden sollen und sich nicht die Schule an die Anforderungen der Kinder anpassen muss. Damit verbunden ist die alte Vorstellung, Menschen würden sich in zwei Arten Begabungen aufteilen lassen: „Intellektuell-kognitiv Begabte“ sollen dementsprechend in das Gymnasium gehen, „handwerklich-praktisch Begabte“ kommen in die Hauptschule. Doch selbst wenn es tatsächlich diese zwei Typen von Menschen gäbe, was ich bezweifle, ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass sich dies bereits mit neun Jahren feststellen lässt. Das Problem ist bekannt und wird seit Jahrzehnten diskutiert, ohne jede nennenswerte Bewegung. Denn letztlich wird ja auch die Neue Mittelschule die Festung Gymnasium nicht ins Wanken bringen.
Gerade die frühe Trennung sorgt zu einem großen Teil für die hohe soziale Reproduktion des Bildungssystems. Die soziologische Forschung zeigt mehrfach, dass sich unterprivilegierte SchülerInnen an den Weggabelungen des Bildungssystems eher gegen einen Verbleib und für ein Ausscheiden entscheiden. Kommen 77% der zwölf- und 13-jährigen Kinder von AkademikerInnen auf die AHS, sind es nur 12% der Kinder von maximal PflichtschulabsolventInnen. Dagegen gehen deren Kinder zu 88% in eine Hauptschule, gegenüber 23% der Kindern von AkademikerInnen. Dabei haben diese Unterschiede nur bedingt mit den Noten der Kinder zu tun: AkademikerInnenkinder haben bei einem „Sehr gut“ in Deutsch und Mathematik in der vierten Klasse Volksschule eine Wahrscheinlichkeit von über 80%, in eine AHS überzutreten, Kinder von Eltern mit maximal Pflichtschule haben bei denselben Noten nur eine rund 50%ige Chance.
Schließlich unterliegt jedoch auch die Notengebung sozialen Unterschieden: Bei einer durchschnittlichen Lesekompetenz haben AkademikerInnenkinder in der Volksschule eine Chance von 30% auf die Note 1 in Deutsch/Lesen; Kinder aus maximal Pflichtschulhaushalten von rund 10%. Die Daten für Eltern mit Lehrabschluss, mittlere Reife und Matura liegen entsprechend in der Mitte der beiden Pole. In diesen Vergleich sind nur die höchsten Bildungsabschlüsse der Eltern eingeflossen. Das heißt eventueller Migrationshintergrund, Wohnortunterschiede, Einkommens- und Familiensituation etc. müssten entsprechend mitbedacht werden. Der deutsche Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth beschreibt die Situation auch für Österreich sehr treffend, wenn er sagt „Bildung war für das deutsche Bürgertum stärker als anderswo Privileg und Besitz, die es zu verteidigen galt“ und immer noch gilt.
Das Bildungsvolksbegehren ist in diesem Zusammenhang in seinen Forderungen ja wenig präzise. Anstatt der viel diskutierten Gesamtschule ist hier lediglich davon die Rede, dass eine Trennung nach „Interessen und Begabungen“ erst „am Ende der Schulpflicht“ – konkret mit14 bis 15 und nicht bereits mit neun Jahren – erfolgen soll. Wie verstehst du diese Forderung und ist sie d. E. geeignet, das angesprochene Problem der mangelhaften „sozialen Durchlässigkeit“ zu lösen?
Nun, eine spätere Trennung gibt unterprivilegierten Kindern die Möglichkeit, etwas länger jenes kulturelle Kapital aufzuholen, das andere mit der Familie mitbekommen haben. Wenn diese vier Jahre jedoch geprägt sind durch Prüfungsängste, Misserfolgserfahrungen und Konkurrenzdenken, wird diese Maßnahme alleine noch nicht ausreichen. Es bedarf schon auch einer neuen Form von Schule.
Seitens des Bildungsvolksbegehrens eingefordert wird ja auch ein Prozess der verbesserten und ausgeglicheneren Qualifizierung von PädagogInnen in den unterschiedlichen Schultypen, aber auch in Kindergärten und -grippen. Inwiefern trägt die derzeitige Hierarchisierung hinsichtlich der Qualifizierung, aber auch der Entlohnung und des Prestiges in diesem Bereich zur sozialen Selektivität des österreichischen Bildungssystems bei? Und wie müsste der angesprochene Qualifizierungsprozess aussehen, um in diesem Zusammenhang positive Effekte zu zeitigen?
KindergartenpädagogIn ist eine psychisch und physisch höchst anspruchsvolle Tätigkeit, die schlecht bezahlt und trotz der immensen Bedeutung viel zu wenig beachtet und wertgeschätzt wird. In der Diskussion zur Ausbildung von KindergärtnerInnen steht meistens die Forderung nach einem akademischen Abschluss. Ich bin bei dieser Lösung jedoch etwas skeptisch: einerseits wegen der starken theoretischen Ausrichtung, andererseits wegen der miserablen Bedingungen auf den Universitäten. Dabei sehe ich eigentlich weniger ein Theoriedefizit, als ein Defizit im Gehalt und Prestige und dadurch einen Mangel an PädagogInnen. Das bedeutet letztlich eine starke Überlastung sowie eine extrem hohe Rate an BerufsabbrecherInnen.
Ideal wäre, und das wird ja im Forderungstext sogar angesprochen, eine gemeinsame Form der Ausbildung und des Gehaltsschemas aller pädagogisch Tätigen. Seien es AHS-, BHS-, Berufs- oder PflichtschullehrerInnen, KindergartenpädagogInnen, aber auch ErwachsenenbildnerInnen und Universitätslehrende. Darin müssten theoretisches Fachwissen, Didaktik sowie soziale Kompetenzen gleichberechtigtere Rolle spielen. Heute haben wir ja unter den verschiedenen Lehrenden sehr unterschiedliche Gewichtungen dieser drei Kompetenzen.
Auch das Fehlen eines adäquaten Angebots sowohl im elementarpädagogischen Bereich (Kinderkrippen, Kindergärten usw.) als auch in dem der Ganztagsschulen wird seitens des Volksbegehrens angesprochen. Welche Rolle spielt dieser Mangel – auch im Hinblick auf die Frage privat geleisteter oder zugekaufter Lernhilfen (Stichwort: Nachhilfe) – aktuell für die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem?
Die mangelnde Ausstattung an vorschulischen Einrichtungen und die Dominanz der Halbtagsschule benachteiligt vor allem zwei gesellschaftliche Gruppen: einerseits die Mütter, denen in der Gesellschaft die Verantwortung für die Kinder zugeschrieben wird. Durch eine mangelnde Kinderbetreuung wird diese Rolle nicht nur festgeschrieben, sondern die Frauen sind darüber hinaus in ihrer vor allem beruflichen Freiheit eingeschränkt. Das hat natürlich letztlich Konsequenzen für ihre Unabhängigkeit. Kein Wunder, dass gerade erfolgreiche Frauen sehr skeptisch sind, ob sie Kinder zur Welt bringen möchten.
Andererseits benachteiligt das aber auch die Kinder, vor allem diejenigen aus unterprivilegierten Familien. Kinder profitieren in ihrer Entwicklung massiv, wenn sie die Möglichkeit haben, mit Gleichaltrigen Neues zu entdecken und selbstständig zu lernen. In einer spannenden Untersuchung aus der Schweiz hat Rahel Jünger gezeigt, dass gerade unterprivilegierte Kinder größtes Interesse an der Schule haben und nichts mehr fürchten als die Langeweile in den Ferien. Denn im Gegensatz zu privilegierteren Kindern können ihnen ihre Eltern – aus vielerlei Gründen – weit weniger Angebote in der Freizeit bieten. Damit sind wir auch beim Thema Nachhilfe: Wer privilegiert ist, profitiert doppelt. Er/sie kann den Kindern direkte Unterstützung geben oder auch relativ problemlos eine Nachhilfe finanzieren. Würde die Schule diese Aufgaben übernehmen, könnten nicht nur 140 Millionen Euro an Nachhilfe eingespart werden, sondern diese Unterstützung sozial gerechter erfolgen.
Stärker noch als das (Pflicht-)Schulsystem ist jenes der höheren Bildung durch soziale Segregation gekennzeichnet. Über welche Mechanismen funktioniert diese hinsichtlich des Zugangs zu Universitäten und Fachhochschulen? Und wie erfolgversprechend scheinen dir die seitens des Volksbegehrens vorgeschlagenen Mittel (v.a. Erhöhung der öffentlichen Subventionen für Hochschulen; Ausbau des studentischen Förderungswesens) zur Realisierung des Ziels einer sozial ausgewogenen Erhöhung der AkademikerInnenquote in Österreich?
Das Bildungssystem baut sich wie eine Pyramide auf: Unten kommen alle rein, einige wenige erreichen die Spitze. Wer am Weg verloren geht, hat nur wenig Chance wieder hineinzukommen: Stichwort „Durchlässigkeit“. Es ist offensichtlich, dass die Universitäten, aber nebenbei bemerkt auch die Erwachsenenbildung, mehr Mittel benötigen. Doch die Vergabe öffentlicher Gelder erfolgt, wie wir wissen, weniger nach rationalen sondern nach politischen Abwägungen. Letztlich ist es also eine Frage der Machtverhältnisse.
Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass eine reine Stipendienpolitik die Zahl an Studierenden aus NichtakademikerInnenfamilien noch nicht maßgeblich erhöht. Dazu bedarf es auch einer Reihe an weiteren Maßnahmen. Solange die Universitäten am meisten Angst vor neuen Studierenden haben und gezielt Knock-Out-Prüfungen, verschulte Lehrpläne und die Forderung nach Auslese und Gebühren einbauen, werden Studierende aus NichtakademikerInnenfamilien stärker vom Studium abgeschreckt als AkademikerInnenkinder, die von Haus aus darauf vorbereitet werden, eines Tages ein Studium zu beginnen. Was meines Erachtens zu wenig diskutiert wird, ist die Rolle der Universität in der Gesellschaft, hin zu einer wirklich öffentlichen Einrichtung, die sich bemüht, die Gesellschaft an ihren Ergebnissen teilhaben zu lassen.
Hinsichtlich ihrer „Rahmung“ bleibt die Argumentationslogik des Volksbegehrens klar (neoliberalen) Standortlogiken verhaftet. Das wird bereits am Titel („Österreich darf nicht sitzen bleiben“) deutlich – oder auch an Androschs Geleitworten, in denen Humankapital zum „wichtigsten Rohstoff unseres Landes“ erklärt und dessen Qualitätssicherung qua Bildung eingefordert wird. Welche Veränderungsperspektiven ergeben sich aus dieser ideologischen Ausrichtung der Initiative hinsichtlich des (konservativen) Charakters des österreichischen Bildungssystems? Können also neoliberale Reformen dessen soziale Selektivität korrigieren?
Das ist natürlich eine bittere Ironie der Geschichte, dass jede Veränderung im Bildungssystem der letzten Jahre aus einer ökonomistischen Standortlogik heraus entstanden ist. Seien es die PISA Studien der OECD oder die Forderungen des Bildungsvolksbegehrens. Natürlich bleibt damit die Gefahr, dass die soziale Öffnung des Bildungssystems eine rein instrumentelle bleibt. Letztlich ist es immer der Weg zwischen der Skylla des Stillstands und der Charybdis des Ökonomismus.
Ich habe etwas den Eindruck, dass die Diskussion von zwei Positionen dominiert wird, die sich wechselseitig bekämpfen: die Orthodoxie, die den alten Bildungsbegriff hochhaltet, ohne Rücksicht auf soziale Verluste; und die Heterodoxie, die sich begeistert auf jede Innovation stürzt, die das Bildungssystem umbauen könnte. Was fehlt sind gemeinsame Perspektiven und Utopien. Um diese zu erarbeiten, müssten sich die Positionen jedoch aufeinander zubewegen. Ich kenne aber kaum ein soziales Feld, wo das so schwierig scheint, wie in der Bildung.
Eine Stellungnahme zum Bildungsvolksbegehren aus der Perspektive einiger, die nicht mitbegehren dürfen, es aber doch tun.
Ein Volksbegehren zur Reform des Bildungssystems zirkuliert im Land. Einige der darin begehrten Änderungen würden wir von maiz, dem autonomen Zentrum von und für Migrantinnen in Linz, auch unterstützen … obwohl die Wenigsten unter uns sich am Prozess beteiligen dürfen, denn die österreichische Staatsbürgerschaft gilt hier als Voraussetzung! Trotzdem und gerade deswegen mischen wir uns ein. Im Folgenden werden einige der auch von uns geteilten Begehren erwähnt und teilweise kurz kommentiert, um aber gleichzeitig darzustellen, warum uns die Entscheidung, das Volksbegehren zu unterschreiben, nicht leicht fallen würde.
Unterstützungswürdig finden wir die Forderung nach einer gemeinsamen Schule bis zum Ende der Schulpflicht, wie in der Einleitung der Unterstützungserklärung zu lesen ist – die Bezeichnung gemeinsame Schule jedoch erscheint im Text der Forderungen selbst merkwürdigerweise nicht mehr! Auch die Forderung nach einem flächendeckenden Angebot an elementarpädagogischen Einrichtungen sowie nach bundesweiten Ganztagsangeboten für alle erachten wir für sehr wichtig. Wir begrüßen und unterstreichen die Aussage „Es darf kein Kind zurückgelassen werden“, finden jedoch die dafür vorgeschlagenen Ansätze (Begabtenförderung und Beseitigung von Schwächen) nicht adäquat. Um kein Kind „zurückzulassen“, sollen die Schule und alle im schulischen Kontext professionell handelnden Akteur_innen nicht weiterhin nur bei den Schüler_innen nach den Gründen für das „Zurückbleiben“ suchen, sondern auch bei sich selbst; und sich zum Beispiel die Frage stellen, ob diese sogenannten Schwächen nicht erst durch curriculare und methodische Entscheidungen innerhalb des Schulsystems hergestellt werden.
Wir sind der Meinung, dass Schüler_innen Freizeit und Entspannung brauchen und unterstützen die Forderung nach einer achtstündigen Ganztagsschule. Aber nicht nur eine Beschränkung der Tagesarbeitszeit für Schüler_innen auf acht Stunden soll angestrebt werden, sondern auch ein Ausweg aus dem Leistungsdruck, aus dem Imperativ der Effizienz und aus der Kosten-Nutzen-Logik, die das gegenwärtige Denken über Schule, Bildung und/oder Lernen beherrschen.
Wir wünschen uns gleichfalls „ein sozial faires, inklusives Bildungssystem“. Aber anders als in der Erklärung begründen wir diese Forderung nicht mit dem Argument, Vielfalt bringe Bereicherung. Inklusion und soziale Fairness im Bildungssystem sollen Rechte bilden, wofür keine ökonomisch orientierte Argumentation notwendig sein darf. Denn die Folge davon wäre (oder ist es schon?), Eigenschaften, Wissen, Kompetenzen usw. nach ihrer Bereicherungsrelevanz für die Mehrheitsgesellschaft einzustufen. Einige rätselhafte Aussagen in der Erklärung ziehen unsere misstrauische Aufmerksamkeit auf sich. Ein Beispiel dafür erscheint in diesem Zusammenhang: „Bei der Klassenzusammensetzung muss auf sinnvolle Durchmischung geachtet werden.“ Ähnliches gilt unserer Meinung nach für die Frage der kulturellen Vielfalt. Zusätzlich zur Ablehnung einer ökonomisierenden Logik positionieren wir uns gegen Festschreibungen kultureller Zugehörigkeiten oder Identitäten.
Eine Position, die unsere Unterstützung bekommt, ist diejenige zur Bekämpfung der Segregation durch das Bildungssystem. Die Trennung der Schüler_innen in unterschiedliche Schultypen soll erst nach dem 14./15. Lebensjahr erfolgen. Um eine hohe soziale Durchmischung an Hochschulen und Universitäten zu erreichen, wird verlangt, dass alle sozialen Zugangshürden abgebaut werden. Ein mutiges Moment im Text, das bei den Leser_innen die Frage nach verändernden Prozessen aufwirft, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden sollten, um dieses Ziel verfolgen zu können. Diese Frage bleibt unbeantwortet. Um Zugangsbarrieren abzubauen, müssen sich Institutionen und Akteur_innen aus dem Bildungsbereich zu Politiken der Antidiskriminierung verpflichten. Das impliziert radikale Veränderungen innerhalb des Bildungssystems selbst und koordinierte Arbeit im gesamten gesellschaftlichen Kontext.
Wir teilen die Forderung nach Ermöglichung des lebenslangen Lernens nicht. Denn dahinter vermuten wir eine indirekte Lenkung, sich stets um die optimale Nutzung (des eigenen) Humankapitals zu bemühen und sich lebenslänglich dem Druck auszusetzen, über die eigenen Leistungsgrenzen gehen zu müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und zur Wettbewerbsfähigkeit einer Region oder eines Unternehmens beizutragen. Vielmehr bevorzugen wir eine Konzeption des Lernens als lebensverändernd. Lebensverändernd ist das Lernen, wenn es Handlungsoptionen zur Verbesserung des individuellen und gemeinschaftlichen Wohlbefindens und zur Konstruktion einer egalitären Gesellschaft eröffnet. Lebensveränderndes Lernen ermächtigt Lernende, Handlungsoptionen wahrzunehmen, zu entwerfen und umzusetzen. Es ermöglicht Emanzipation und Abbau von Abhängigkeits-, Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnissen.
Als eine letzte Anmerkung möchten wir noch darauf hinweisen, dass im Text die Teilnehmer_innen im Bildungssystem als Österreicher_innen bezeichnet werden: ein widersprüchliches Moment eines Volksbegehrens, das sich dem Ziel des Abbaus von sozialen Hürden verpflichtet, das Inklusion und soziale Fairness erreichen will, aber das den Begriff des Volkes bei der Bezeichnung der angewendeten Instrumente in seiner äußerst ausschließenden Dimension bestätigt und andere, die auf diesem Territorium namens Österreich leben, nicht als gleichberechtigte Bürger_innen anerkennen will.
Rubia Salgado/maiz