Gegenläufige Gedächtnisspeicher
Überlegungen zum Archiv der Migration aus einer praktischen Perspektive
Seit 2000 betreue ich die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. In dieser Funktion wurde ich dazu eingeladen, Mitglied des Arbeitskreises Archiv der Migration zu werden, was ich gerne als interessante Herausforderung angenommen habe. Dem neuen Projekt können viele unserer bereits gemachten Arbeitserfahrungen sicherlich nützen.
Was ist die Sammlung Frauennachlässe?
Wir archivieren Selbstzeugnisse wie Tagebücher, Briefe, Fotografien, Haushaltsbücher etc. (primär) von Menschen, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen. Zurzeit sind die Vor- und Nachlässe von 330 Personen dokumentiert. Sie umspannen einen Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Vergangenheit, der Großteil davon wurde aber zwischen den 1890er- und den 1960er-Jahren verfasst.
Im Unterschied zum geplanten Archiv der Migration verfolgen wir bei der Aufnahme von neuen Beständen dezidiert keine inhaltlichen Auswahlen. Die Schreiberinnen werden nicht nach bestimmten Personen- oder etwa Berufsgruppe ausgewählt, vielmehr ist die Sammlung allgemein für Selbstzeugnisse von Frauen, ihren Familien und Bekannten (also auch Männern) offen. Dementsprechend kamen und kommen sie aus einem sehr breiten sozialen Feld: von Lehrerinnen, Bäuerinnen, Hausfrauen, Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Fabrikbesitzerinnen, einer Künstlerin, Modistinnen, Juristinnen, einer Fleischhauerin, einer Dentistin, einer Fremdenführerin oder einer Botschafterin, um nur einzelne zu nennen.
Wie kam es zur Gründung der Sammlung Frauennachlässe?
Die Initiative zu dieser Sammlung wurde 1989 von der Historikerin Edith Saurer gesetzt, die sie auch bis zu ihrem Tod 2011 gemeinsam mit Christa Hämmerle geleitet hat. Hierin liegt der zweite wesentliche Unterschied zum Archiv der Migration: Die Gründung war weniger eine bewusste Entscheidung als ein Prozess, dessen Beginn im Zusammenhang eines konkreten Forschungsvorhabens stand:
Zum Anlass von 70 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich wurde im damals neuen WUK eine Ausstellung geplant. Das Mitarbeiterinnenkollektiv wollte dabei nicht nur die Positionen von Aktivistinnen und Aktivisten – oder Gegnerinnen und Gegnern – darstellen, sondern auch von potenziellen Wählerinnen, also von sogenannten „Normalbürgerinnen“. Deren schriftliche Spuren wurden in den hegemonialen Archiven bis dahin aber schlichtweg nicht gesammelt. Die Ausstellungsmacherinnen publizierten daher einen Zeitungsaufruf, woraufhin tatsächlich die Hinterlassenschaft einer Aktivistin der Ersten Frauenbewegung um 1900 übernommen werden konnte.
Die enorm umfangreichen Materialien bildeten sozusagen den Grundstock für die später gegründete Institution, die seit damals mit unterschiedlichen (Subventions-)Mitteln auf- und ausgebaut wurde. Seit Sommer 2013 hat die Universität Wien für ihre Betreuung eine fixe Teilzeitstelle am Institut für Geschichte eingerichtet.
Initiativen entstehen nicht in luftleeren Räumen.
Diese Gründungsgeschichte ist jedenfalls in den breiteren wissenschaftlichen und (zivil-)politischen Kontexten der späteren Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu verorten.
Die damals neuen wissenschaftlichen Fragestellungen richteten sich auf Themen der Alltags- oder Kulturgeschichte sowie der Frauen- und später der Geschlechtergeschichte. Feministische Einrichtungen entstanden dabei vor allem im Kontext der sogenannten Neuen Frauenbewegung.
Allgemein fand in diesen Zusammenhängen auch die (im deutschsprachigen Raum längere Zeit vernachlässigte) Quellengattung der „Selbstzeugnisse“ wieder neue Beachtung. Und weil diese jetzt gesucht wurden, wurden sie plötzlich auch gefunden. Der ungeahnte Umfang und die Vielfältigkeit der in Wohnzimmerschränken oder auf Dachböden oft sogar über Generationen hinweg aufbewahrten Materialien waren wohl nur zwei der dabei zutage beförderten großen Überraschungen. Die Forschung findet hier jedenfalls nach wie vor viel Potenzial vor.
Für alle in den damaligen Kontexten eingerichteten, unterschiedlichsten Spezialarchive und -sammlungen kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass sie ihre Arbeit einerseits als wissenschaftliche Notwendigkeit sehen: Es geht darum, (historische) Quellen für wissenschaftliche und öffentliche Zwecke zur Verfügung zu stellen, die bisher nicht zugänglich waren.
Damit verbunden sind andererseits klare politische Ansprüche: Das Suchen, Finden und Bewahren von bisher vernachlässigter oder sogar zerstörter Erinnerung bedeutet für die Akteurinnen und Akteure immer auch ein zivilgesellschaftliches Engagement. Es werden die Möglichkeiten geschaffen, dass auch bisher schlichtweg ignorierte Personengruppen mittels ihrer (Selbst-)Zeugnisse in institutionalisierten Räumen vertreten sind. Immer vorausgesetzt natürlich: so sie das wollen.
Daran geknüpft ist nichts weniger als die Chance, sich und die eigene Lebensgeschichte bzw. die Geschichte der Familie oder Community etc. in das hegemoniale „kollektive Gedächtnis“ mit einzuschreiben; aber auch, das Gedächtnis der eigenen Community ein Stück weit zu materialisieren. Alle diese Initiativen waren und sind Ergebnisse von Selbstbestimmung und der Absicht, einen gegenläufigen Gedächtnisspeicher zu den hegemonialen Erinnerungspraktiken zu schaffen. Das geplante Archiv der Migration verfolgt genau diese Idee.
Migration als Thema in den Beständen der Sammlung Frauennachlässe?
Trotz – oder vielleicht gerade wegen? – der oben beschriebenen inhaltlichen Offenheit dokumentieren die in der Sammlung Frauennachlässe archivierten Materialien nicht zuletzt historische Dimensionen der österreichischen Migrationsgesellschaft.
53 Prozent der aktuell 330 dokumentierten Personen haben zumindest einmal in ihrem Leben ihren Wohnort über eine größere geografische Distanz hinweg gewechselt. 52 Prozent von ihnen (also mehr als ein Viertel der 330 Menschen) haben dabei auch Staatsgrenzen überschritten (bzw. Grenzen innerhalb des Gebildes der sogenannten Donaumonarchie), immerhin 17 Prozent haben dazu auch einen Ozean überquert. 70 Prozent der transnationalen Migrantinnen oder Migranten haben sich wahrscheinlich aus ökonomischen Gründen entschieden, auszuwandern. 30 Prozent mussten aus politischen Gründen, konkret vor der Verfolgung im Nationalsozialismus, flüchten. 9 Prozent (zusammengesetzt aus beiden Seiten) kehrten zu einem späteren Zeitpunkt wieder in ihr Ursprungsland zurück.
Von jenen 48 Prozent der dokumentierten Personen, die sich bei ihren Wohnortwechseln innerhalb von Staatsgrenzen bewegt haben, zogen nur 30 Prozent von einer ländlichen Umgebung in eine Großstadt. Der Großteil wechselte stattdessen von einer Stadt zur anderen oder blieb in ruralen Kontexten.
Anhand dieser Bestände lassen sich also Aspekte der Geschichte der Migration erforschen – wenn dabei bisher auch kaum schriftliche Spuren der Arbeitsmigration nach Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Um diese zu entdecken, zu sammeln und zu dokumentieren, sind offenbar gezielte Strategien notwendig, die für das Archiv der Migration entsprechend systematisch entwickelt und ausprobiert werden müssen.
Zuerst muss aber freilich definiert werden, auf welcher Art von Materialien der Fokus liegen soll. Auf der Grundlage von Beobachtungen als Betreuerin einer Sammlung für auto-/biografische Dokumente kann ich dazu die folgenden Überlegungen formulieren:
Welche Materialien kommen für ein Archiv der Migration infrage?
Meiner Ansicht nach wären sowohl die Auswahl dessen, was gesammelt wird, als auch die Strategien dazu, wie an diese Quellen und Informationen zu kommen ist, möglichst breit zu fassen.
Da aus heutiger Sicht ja kaum vorhergesagt werden kann, was für künftige Forschungen interessant sein wird, ist insbesondere eine enge Selektion der Form der Materialien schwer zu verantworten. Das ist auch deshalb zu betonen, weil Archive abgesehen von Inhalten ja auch die historisch veränderbaren Materialitäten von Textträgern und Schreibmedien dokumentieren. (Aufgrund des programmatischen Charakters dieser Ausführungen können pragmatische Aspekte wie die Frage nach genügend Platz hier kurzerhand außer Acht gelassen werden.)
Wir stellen jedenfalls wiederkehrend fest, dass es aktuell ein großes Interesse von Privatpersonen gibt, durchaus auch persönliche Dokumente an öffentliche Institutionen zu übergeben. Die oben beschriebenen Veränderungen der wissenschaftlichen Fragestellungen seit den 1970er-Jahren haben sich unübersehbar auch auf populärwissenschaftliche Öffentlichkeiten ausgewirkt. Der derzeitige Buch- und Medienmarkt macht das in der Konjunktur biografischer Formate sichtbar.
Anders ausgedrückt kann gesagt werden: Das Lese- und Rundfunkpublikum ist es inzwischen „gewöhnt“, (auch) Lebenserzählungen von Personen zu konsumieren, die eben nicht in einer prominenten Öffentlichkeit stehen oder standen. Wechselwirkend wird es davon möglicherweise dergestalt empowered, auch seine jeweils eigene Geschichte als „erzählenswert“ wahrzunehmen.
Das Archiv der Migration wird sich insbesondere auf die Arbeitsmigration seit den 1960er-Jahren fokussieren. Für die Materialien der Sammlung Frauennachlässe ist festzustellen, dass diese zu einem Gutteil nicht von den Schreiberinnen und Schreibern selbst übergeben werden, sondern (etwas zeitversetzt) von ihren Kindern, Verwandten oder Bekannten. (Damit ist auch der beschriebene zeitliche Fokus des Großteils der Dokumente zu erklären.) Dass Menschen bereits auch ihre eigenen Aufzeichnungen, Fotografien, Erinnerungsgegenstände etc. einem Archiv zur Verfügung stellen, setzt jedenfalls besondere Bedingungen voraus – häufig werden es deshalb (vorerst) wohl auch nicht die Originale, sondern eher Kopien oder Scans davon sein.
Unserer Beobachtung nach ist die Resonanz auf Aufrufe dann besonders groß, wenn an das Sammeln von Materialien auch ein bestimmtes Veröffentlichungsprojekt geknüpft ist. Eine konkrete Ausstellung oder ein Forschungsprojekt sind – verständlicherweise – ein noch größerer Anstoß, sich einzubringen, als die prinzipielle Chance dazu.
Die Möglichkeiten davon, was im Archiv der Migration gesammelt wird, gehen freilich bei Weitem über Selbstzeugnisse – oder auch Materialien von Vereinen – hinaus: So können etwa gezielt neue Quellen durch Interviews oder durch Schreibaufrufe geschaffen werden.
Als vielversprechend sehe ich weiters die Strategie an, parallel zum Sammeln oder Schaffen neuer Bestände, auch die bereits vorhandenen Potenziale anderer Archive und Sammlungen oder auch Forschungsprojekte zu nützen. Durch die systematische Revision von deren Beständen können diese auch für das Thema Migration neu erschlossen werden. Die Materialien müssen sich ja physisch durchaus nicht an einem Ort befinden, Hauptsache ist das Wissen darüber, wo sie zu finden und zugänglich sind.
Sowohl die Archivlandschaft als auch das damit verbundene Fachwissen sind inzwischen sehr vielfältig. Das Archiv der Migration kann bereits darauf aufbauen. Ich wünsche dem Vorhaben alles Gute.
Li Gerhalter ist Historikerin in Wien.