Die störrische Schlange aus dem Schiffswrack
Sie schreiben die Geschichte des „revolutionären Atlantiks“ als eine Erzählung über Enteignungen, den Kampf um alternative Lebensformen, Widerstand und nicht zuletzt die Auferlegung einer neuen Arbeitsdisziplin. Siedler, Seeleute, Vagabunden, Piraten, Sklaven, Liebende, Plantagenarbeiter und religiöse Träumer sind die Protagonisten dieser verborgenen Geschichte.
Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks beginnt mit einem Schiffbruch. Die US-amerikanischen Labour-Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker setzen die Geschichte eines 1609 in einem Sturm auf die Bermudas verschlagenen Schiffs der Virgina-Company an den Anfang ihres Buchs „Die vielköpfige Hydra“. Glücklich dem Sturm entronnen stellen die Schiffbrüchigen fest, dass die Inseln alles zum Überleben notwendige bieten. Die 150 Überlebenden waren als Siedler auf dem Weg in die Kolonie Virginia. Siedler, ein euphemistischer Begriff, wenn man Linebaugh und Rediker folgt, denn die Menschen, die wie die Passagiere der „Sea Venture“ ab dem 17. Jahrhundert in die Kolonien exportiert wurden, waren selbst ein Produkt der vorangegangenen Enteignungsprozesse in England. Was sich auf der Insel ereignet, der Widerstand der Passagiere, das relativ einfache Überleben auf der Insel einzutauschen gegen die Weiterreise in das Zwangsarbeitssystem Virginias und die darauf folgende Repression seitens der Vertreter der Virginia-Company, markieren die zwei Pole eines provokanten historiographischen Narrativs, das das ganze Buch durchzieht. Denn anders als die geläufige Erzählung vom Aufstieg der kapitalistischen Arbeitsdisziplin in den Fabriken Europas, verorten sie die Geschichte dieses Aufstiegs in dem Projekt der Kolonialisierung des atlantischen Raumes. Sie schreiben die Geschichte des „revolutionären Atlantiks“ als eine Erzählung über Enteignungen, den Kampf um alternative Lebensformen, Widerstand und nicht zuletzt die Auferlegung einer neuen Arbeitsdisziplin. Siedler, Seeleute, Vagabunden, Piraten, Sklaven, Liebende, Plantagenarbeiter und religiöse Träumer sind die Protagonisten dieser verborgenen Geschichte.
Um diese Geschichte zu erzählen, sammeln die Autoren zunächst die Spuren eines Herrschaftswissens, das sie in der Figur der „vielköpfigen Hydra“ finden. Es ist kein geringerer als Francis Bacon – der im Übrigen auch Investor der Virginia-Company war –, der in seinen Schriften die Hydra als Metapher der furchterregenden Unordnung der Armen in eine neuartige „Theorie der Monstrosität“ überführte. Damit machte er jene Subjekte aus, die „Scharen“ und „Rudel“ von Menschen, wie er sie bezeichnete, gegen die der „heilige Krieg“ des Souveräns zu führen sei. Das Monströse, „die verirrte Natur“ als Gegenpol zur „unbehinderten Natur“, welche das Signum der göttlichen Vorsehung in der politischen Theologie seiner Zeit trug, bildete die Grundlage einer Typologie gefährlicher sozialer Gruppen. Die „Massen“, der „Schwarm“ repräsentieren mit der Figur der „vielköpfigen Hydra“ die Furcht vor der Monstrosität der unkontrollierten Vielheit: „Westinder, Kanaaniter, Landstreicher, Meuchelmörder, Amazonen und Wiedertäufer.“ Doch wer sind diese exotischen Monstren Bacons? Peter Linebaugh und Marcus Rediker entwerfen eine Methode um diesen Monstren ihren Namen zurückgeben. Dazu mussten sie sich, wie sie schreiben, in einem ersten Schritt „an den Körper des Proletariats erinnern: wir mussten ihn aus dem Vokabular der Monstrosität wieder neu zusammensetzen.“ Und das bildet den Korpus des Buches: eine Anzahl von Narrativen, teils bekannt, teils von den Autoren neu aufgefunden, entlang derer sie sich auf die Spuren des verschütteten Wissens der Protagonisten und Protagonistinnen des revolutionären Atlantiks begeben. Ihre Quellenauswahl konzentriert sich auf Dokumente, die die Signatur subjektiver Geschichten tragen, die sie zugleich und durchaus überzeugend als exemplarisch für die gelebten Schauplätze der Kämpfe lesen: die Allmende, die Plantage, das Schiff und die Fabrik.
„Eine Schwarzmohrenmagd namens Francis“, so die Autoren, verkörpert drei Hydraköpfe: Sie war eine Wiedertäuferin, eine unabhängige Frau und eine „Westinderin“. Eigentlich ist Francis eine marginale Figur. Lediglich eine zweiseitige Randnotiz aus der Chronik einer radikalen baptistischen Gemeinde aus Bristol gibt uns Bericht über sie: Sie starb in den 1640er Jahren als Mitglied der Gemeinde. Doch gerade in dieser Randnotiz suchen und finden die Autoren, die schwer lesbaren aber unauslöschbaren Spuren einer Revolte des atlantischen Proletariats. Denn es war überhaupt nicht selbstverständlich, dass Frauen in die Gemeinde aufgenommen wurden, geschweige denn Schwarze. Auch die Gründung dieser Gemeinde hat etwas Seltsames. Sie wurde von einer Näherin gemeinsam mit mehreren Handwerkern gegründet. Der Chronist dieser Gemeinde hebt in seinem Bericht hervor, dass die Mitgliedschaft „einer Schwarzmohrenmagd namens Francis“ und die Ehrerbietung, die sie bei ihrem Begräbnis erfuhr, ein Beleg dafür sei, das die Heilige Schrift ihr Versprechen halte, dass „Gott das Gesicht nicht ansieht.“ Gerade in diesem harmlosen Bibelzitat erblicken Linebaugh und Rediker den schillernden Signifikanten jenes Narrativs, dessen egalitäre Bedeutung für die Verlierer der englischen Revolution, die Leveller und die Digger, die Seeleute und Soldaten, die städtischen Aufständischen und ländlichen Commoners, wieder freigelegt werden muss. Linebaugh und Rediker sehen in diesem leicht kryptischen Fragment weniger den Anhaltspunkt für eine stichhaltige biographische Rekonstruktion, sondern den Verdichtungsknoten eines viel größeren Gewebes, dessen Fäden den heranwachsenden Bristoler Hafen als Schnittstelle des atlantischen Handels, mit der Vorgeschichte der britischen Arbeiterklasse, den Anfängen des multiethnischen transatlantischen Proletariats und dem Sklavenhandel zusammenweben.
Diese egalitäre Tendenz, mit der uns die Geschichte Francis erzählt wird, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Aufstände, der Seefahrt, der Kolonien und des black atlantic, die die Autoren über zweihundert Jahren hinweg verfolgen, auch wenn ihre Evidenz erst mit dem Aufkommen von black politics und nicht zuletzt black studies im zwanzigsten Jahrhundert wieder sichtbar wurde. Es ist der jamaikanische Panafrikanist Marcus Garvey, der 1926 die Radikalität des Satzes „Gott sieht die Person nicht an“ erneut belebt.
Schauplätze transatlantischer Revolten
Der erstaunliche Verdienst der Studie besteht darin, dass es ihr gelingt aufzuzeigen, wie der kontinentale Kampf um die Allmende, um die gemeinsame Nutzung der Ressourcen, eine Transformation durch die Kämpfe gegen Sklaverei in den Plantagen, die Arbeitskämpfe der Seeleute und die Piraterie erfährt und damit einen Wechsel der Schauplätze der Revolten in den transatlantischen Raum einläutet. Von Barbados ist uns die erste gemeinsame Revolte von Leibeigenen und afrikanischen Sklaven überliefert. Nach der Niederlage ihrer Verschwörung von 1649 bilden entflohene Sklaven und Leibeigene die ersten „Maroons“, multiethnische Gemeinschaften fernab der Kolonialsiedlungen. Auch in Virginia wagen die Leibeigenen 1676 den Aufstand. Doch die Furcht der Plantagenbesitzer vor dieser monströsen Menge führte 1682 in das aufkommende rassistische Projekt der Segmentierung zwischen Sklaven und Leibeigenen. Waren ursprünglich die Arbeits- und Lebensbedingungen ähnlich, wurde nun die Leibeigenschaft für europäische „Schuldknechte und Mägde“, Vagabunden und religiöse Radikale ausdrücklich zwischen vier und zwölf Jahren begrenzt. Diese vorläufige Niederlage der „vielköpfigen Hydra“ auf den Plantagen und die Flucht ihrer Protagonisten, führte in eine Verlagerung der Revolte dorthin, wo die Fluchtrouten verliefen: in das neu entstehende Terrain des Seestaates und auf seine Schiffe.
Aus einer Schrift des englischen Dichters Richard Brathwaite entlehnen Linebaugh/Rediker den Begriff der „Hydrarchie“, mit dem sie sowohl die Ordnung des englischen Seestaates als auch die Selbstorganisation der Seeleute bezeichnen. Der Begriff, der ebenso die Herrschaft über das Wasser wie das sich wieder erhebende Haupt der Hydra bewahrt, dient ihnen dazu, in der umkämpften Zone des atlantischen Raums die Spannung zwischen merkantilistischer Kapitalakkumulation und der Freiheit von Arbeitsdisziplin und Sklaverei zu beschreiben. In dieser umkämpften Zone kreuzte das Schiff als die neuartige Organisationsform der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft: Es verband das eingehegte und kommerziell bewirtschaftete englische Landgut, die koloniale Plantage und die europäische Manufaktur miteinander in einer Zirkulationssphäre. „Das Schiff, das aufgrund seines Aktionsbereichs gleichzeitig universell und einzigartig war, stellte ein Umfeld dar, in dem eine große Anzahl von Arbeitern gemeinsam gegen Lohn komplexe, synchronisierte Arbeitsgänge ausführte und dabei einer versklavenden, hierarchischen Disziplin unterworfen wurde, die den menschlichen Willen der technischen Ausstattung unterordnete. Das Wesen dieser Arbeit und die Zusammenarbeit und Disziplin am Bord des Schiffes, machten es zu einem Vorläufer der Fabrik.“ (S. 164) Damit liefern die Autoren einen weiteren Beitrag zur Dekonstruktion der These der Zentralität der Fabrik als dem primären Vergesellschaftungsort der historischen Arbeiterklasse. Schon Foucault eröffnete mit seiner Analyse der Funktion von Arbeitshäusern den Blick darauf, dass die disziplinarpolitische Funktion dieser Häuser der Durchsetzung kapitalistischer Arbeitsverhältnisse vorausging und damit die Bedeutung der unfreien Arbeit gegenüber der freien Lohnarbeit betonte. Auch die Arbeit auf den Schiffen der englischen „Hydrarchie“ war im Wesentlichen unfreie Arbeit. Ihr Zwangscharakter äußerte sich sowohl in den gewalttätigen Praktiken der Rekrutierung (Pressung) als auch in den gewaltförmigen Arbeitsverhältnissen an Deck. Dieser gemeinsam erlittene Zwang der Arbeit auf dem Schiff lieferte zugleich aber die räumliche Vorrausetzung für eine neuartige Internationalität. Das Schiff war „der erste Ort, an dem die arbeitende Bevölkerung dieser verschiedenen Kontinente miteinander kommunizierte.“ (S. 166)
Die Piraterie, so die Autoren, ist in diesem Sinne als eine „Hydrarchie von unten“ zu verstehen. War die Piraterie im Kampf gegen die Spanische Konkurrenz zunächst geduldet und erwünscht, entwickelte sie sich bald zu einem massenhaften und gefährlichen Kontrahenten des englischen Seestaates. Nicht wenige Piratengemeinschaften entstanden im Anschluss an Meutereien auf britischen Schiffen, noch häufiger war jedoch das Phänomen, dass sich die Mannschaften der geenterten Schiffe freiwillig den Piraten anschlossen. Die „Hydrarchie von unten“ war so gesehen eine kollektive Strategie des Exodus aus der Arbeitsdisziplin. Die Gefährlichkeit der Piraterie beschränkte sich so keineswegs auf die kostspielige Störung der transatlantischen Warenzirkulation, in der der Sklavenhandel keine geringe Bedeutung hatte. Zahlreiche entflohene afrikanische Sklaven fanden ihren Platz auf den Decks der Piratenschiffe. Die Hydrarchie der Piraten stellte mit ihrer multiethnischen Zusammensetzung der Crews, ihrer egalitären Beuteverteilung, Mitspracherechten und der darin bewahrten Kultur der Revolte einen politischen Gegenentwurf der Freiheit zur disziplinarpolitischen Ordnung des Seestaates.
Eine Verschwörung mit internationalem Charakter
In den 1720er Jahren gelang es der Militärmacht des britischen Seestaates der Piraterie eine entscheidende Niederlage zuzufügen. Doch der Widerstand der Hydra war damit keineswegs besiegt. Er wechselte die Form und die Richtung. Die Hydra ging erneut an Land. Mit den Worten des martinikanischen Dichters Aimé Césaire: „Es ist die störrische Schlange, die aus dem Schiffswrack kriecht.“
Denn tatsächlich erhob die „vielköpfige Bestie“ ihr Haupt in New York. Am St. Patrick’s Day 1741 brannte Fort George, die größte Militäranlage der Kolonie New York, bis auf die Grundmauern nieder. Die große Revolte der „Ausgestoßenen der Nationen der Erde“, zu der die Brandstiftung das Fanal bilden sollte, kam jedoch nicht mehr zustande: Einer der Verschwörer hatte das Feuer vor dem vereinbarten Termin gelegt, der Aufstand brach deshalb überstürzt los, und es gelang der Obrigkeit, ihn zu zerschlagen. Die Vorgänge um die New Yorker Verschwörung von 1741 sind in der Forschung hinlänglich bekannt und Linebaugh/Rediker können sich in ihrer Darstellung der Ereignisse auf eine ausgezeichnete Quellenlage stützen. Der Verdienst ihrer Neulektüre der Quellen liegt zweifellos darin, dass sie die New Yorker Rebellion in ihrer Bedeutung als eine multiethnische „revolutionäre Verschwörung von atlantikumspannenden Ausmaßen“ (S. 194) entziffern, die die Autoren in einem karibischen Rebellionszyklus einbetten. „Die Rebellen von 1741 kombinierten die Erfahrung des Hochseeschiffes (die Hydrarchie) mit denen des Armeeregiments, der Plantage, der Hafenbande, der religiösen Konventikel und des ethnischen Stammes oder Clans und schufen daraus etwas Neues, Mächtiges, noch nie Dagewesenes.“(S. 195)
Unter den Verschwörer waren Iren wie Jerry Corker und William Kane, beide Armeearbeiter im Fort George, afroamerikanische Sklaven wie John Gwin und Quack –derjenige der vorzeitig den Brand im Fort legte- ehemalige Sklaven aus der Karibik wie Will und afrohispanische Seeleute wie Antonio de St. Bendito. Das „noch nie Dagewesene“ ihrer Verschwörung bestand Linebaugh und Rediker zufolge nicht nur in dem Willen sich einer großen und bedeutenden Stadt wie New York zu bemächtigen sowie in dem Wissen der Kämpfe des revolutionären Atlantiks, das sie zusammentrugen, sondern in dem wahrhaft internationalen Charakter, den ihre Gemeinschaft ohne Ansehen der Person trug. Indem Linebaugh und Rediker sich auf die Quellen der Prozess- und Ermittlungsakten stützen, machen sie Namen ausfindig, deren versprengte Geschichten sie mit revolutionären Erfahrungen an der afrikanischen Goldküste, in den irischen Hüten, in den Maroon-Siedlungen von Jamaika und den Erweckungsversammlungen in den Plantagen zusammenweben. An die Stelle des Decks als Ort der Internationalität tritt nun die Hafentaverne. Da suchen und finden die Ermittler die Beweisstücke der Verschwörung. Ein Wirt Namens John Hughson wird als Kopf der Verschwörung identifiziert. Die Gäste seiner Taverne- Seeleute, Hafenarbeiter, Soldaten, entflohene Sklaven und Prostituierte- praktizierten einen „simplen Kommunismus“. Wer kein Geld hatte, wurde zu freien Kosten bewirtet. Gleichzeitig waren die Hafentavernen die Dreh- und Angelpunkte der Hafenökonomie. Der Ort, um illegal erworbene Waren zu verticken und damit die Reproduktionskosten aufzubessern.
Auf eine andere Weise zeigte sich der internationale Charakter in den „buntscheckigen Haufen“, die die revolutionäre Krise der 1760er und 1770er Jahre und die Amerikanische Revolution als treibende Kraft bestimmten. Linebaugh/Rediker arbeiten die oft in der Geschichtsschreibung vergessene plebejische Vorgeschichte der amerikanischen Steuerrevolte heraus. Damit zeigen sie, „dass die Amerikanische Revolution weder ein elitäres noch ein nationales Phänomen war, denn sowohl ihre Entstehungsgeschichte als auch ihr Verlauf, Ausgang und Einfluss beruhten auf der Zirkulation proletarischer Erfahrung rund um den Atlantik.“ (S. 230) Es waren „Mobs unter Führung des See- und Hafenproletariats“, wie jener, der sich 1765 in Charleston zusammenfand und die Rücknahme einer von der britischen Kolonialmacht auferlegten Steuer durchsetzte. Die „buntscheckigen Haufen“, waren die organisierte Kehrseite jener multiethnisch zusammengesetzten Arbeitskolonnen, die die Grundlage der Arbeitsprozesse in den Plantagen und auf den Schiffen bestimmten. Auf Seite der Seeleute verbanden sich die städtischen Aufstände mit dem Widerstand gegen die Presstrupps. Eine andere wesentliche Erfahrung, die in die „buntscheckigen Haufen“ einging, war eine Reihe von Sklavenrevolten, die ab 1760 die gesamte Karibik erfasste, und nach ihrer Niederlage Scharen von entflohenen Sklavinnen und Sklaven auf der Suche nach Zuflucht und Lohnarbeit in die Hafenstädte trieb.
Eine neue Lektüre der abolitionistischen Bewegung in England
Es ist das Verhältnis zu ihren plebejischen Protagonisten, das den „Thermidor der amerikanischen Revolution“ markiert. Dieser Thermidor avant la lettre ist die Ziehung einer erneuerten Grenze der Staatsbürgerschaft in der jungen Amerikanischen Republik: die Aufrechterhaltung der Sklaverei. Und es ist dieser Thermidor, der die Fluchtlinie der Sklavenrevolten diesmal auf die andere Seite des Atlantiks richtet. Denn ironischerweise war es das im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung gegebene Freiheitsversprechen der britischen Kolonialmacht an die Sklavengemeinschaften der Plantagen, das letztlich zur Gründung der abolitionistischen Bewegung in England führte. Die Debatte um den Einfluss ehemaliger Sklaven auf die Entstehung der abolitionistischen Bewegung ist nicht neu. Auch Linebaugh/Rediker beziehen sich auf den bekanntesten schwarzen Protagonisten Olaudah Equiano, fügen aber neue Aspekte hinzu. Die in den 1960er Jahren wiederentdeckte black history des Abolitionismus sieht in Equiano „den bedeutensten schwarzen Mann des achtzehnten Jahrhunderts“ (Henry Louis Gates Jr.). Linebaugh und Rediker lesen diese mittlerweile schon fast kanonisierte Geschichte neu. In der gängigen Historiographie des Abolitionismus wie z.B. bei Adam Hochschild taucht Equiano als Zeuge eines der schrecklichsten Kapitel der Geschichte der middle passage auf. Er war derjenige, der dem Gründer der abolitionistischen Vereinigung Granville Sharp von dem Sklavenschiff Zong erzählte, dessen Kapitän 132 Sklaven über Bord werfen ließ, um Proviant zu sparen, und anschließend die Versicherungssumme für die Toten kassierte. Sharp initiierte mit diesem legendären Akt der Zeugenschaft die erste abolitionistische Kampagne gegen die Eigentümer von Sklavenschiffen, und Equiano verfasste sein autobiographisches Buch „The Interesting Narrative of Olaudah Equiano or Gustavus Vassa the African“. Anders aber als Hochschild begleiten Linebaugh und Rediker den Einzug Equianos in eine Londoner WG. Dort lebte er für zwei Jahre mit Lydia und Thomas Hardy zusammen, was für die damalige Zeit überhaupt nicht selbstverständlich war, denn Equiano war schwarz, Lydia weiße Engländerin und Thomas Schotte. Auf diese Weise gelingt es den Autoren, die Geschichte des Abolitionisten Equiano in den alltäglichen Kämpfen und den ersten Organisierungsschritten der englischen Unterklasse zu situieren und so die Pfade des revolutionären Atlantiks in London wieder zusammenzufügen. Hier ist allerdings der Punkt über die Lesart Linebaugh/Redikers hinauszugehen.
Equianos Ankunft an der Themse ist vom Rätsel seiner Herkunft umhüllt. Wie sein Biograph Vincent Carretta inzwischen nachgewiesen hat, hat Equiano in mindestens zwei offiziellen Dokumenten als Geburtsort Carolina angegeben, während er in seiner Autobiographie von seiner Verschleppung aus Westafrika berichtet. Die Zeugenschaft Equianos und seine eigene Herkunft als westafrikanischer Sklave wurden schon mit der Publikation seiner Schrift von den Vertretern der Sklavenhändler in Frage gestellt. Doch unabhängig davon, ob Equiano ein kosmopolitischer Kreole oder ein verschleppter Sklave war, liegt für uns die entscheidende Bedeutung in der narrativen Strategie der Zeugenschaft, mit der Equiano sich selbst als Schriftsteller des Abolitionismus etablierte und gerade mit dieser prekären Zeugenschaft seine Rechte als freier Mann in England durchsetzte. Denn auf der britischen Insel war die Sklaverei bereits abgeschafft. Als Equiano zum ersten Mal an der Themse ankam, war er noch ein unfreier Seemann, der an Land gehen wollte, um sich erst auf diese Weise als freier Mann zu konstituieren. Seine Berufung auf den an Bord des Schiffes erworbenen Status eines Vollmatrosen stieß auf den Widerstand seines Kapitäns. Er wurde mit Waffengewalt zurück an Bord gezwungen und landete für mehrere Jahren als Zwangsarbeiter in den Plantagen. Als er einige Jahre danach wieder an der Themse ankommt, ist er bereits ein freier Mann aber sein Status bleibt prekär. Mit Lydia und Thomas Hardy teilt er nicht nur die WG sondern auch die Armut des „buntscheckigen Haufens“. Erst mit der Publikation seiner Zeugenschaft findet seine Ankunft statt. Mit dieser narrativen Strategie etabliert er sich als eine der Hauptfiguren der abolitionistischen Bewegung und stellt zugleich die Lesbarkeit einer Wahrheit her, die wahrer als die biographische Wahrheit seines Berichts ist.
Die Lesbarkeit der Wahrheit über die Geschichte des revolutionären Atlantiks, die uns Linebaugh/Rediker an die Hand geben, nimmt die besten Traditionen der englischen und US-amerikanischen Labour History auf. Wie Edward Thompson in seiner Geschichte zur Entstehung der britischen Arbeiterklasse, gelingt es auch ihnen, den vergessenen Protagonisten einen Namen zu geben und sie mit der Vielfalt und dem Erfindungsreichtum der populären Kämpfe um das Gemeineigentum zu verbinden. Die an die operaistische Geschichtsschreibung angelehnte und noch immer nicht ins Deutsch übersetzte Studie „De l’esclavage au salariat“ von Yann Moulier Boutang, die die Entstehung der freien Lohnarbeit auf die Sklavenaufstände in den Kolonien zurückführt, findet in der Arbeit der Autoren eine wesentliche Ergänzung: Es ist die faszinierende Lesbarmachung des revolutionären Atlantiks, die der Wirtschaftsgeschichte dieses Raumes eine Geschichte ihrer Subjekte zurückgibt.
Anmerkung
Petern Linebaugh und Marcus Rediker (2008): Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Aus dem Englischen von Sabine Bartel. Berlin/Hamburg, Assoziation A.
Tobias Mulot lebt und arbeitet als Historiker in Hamburg.
Vassilis Tsianos lehrt und forscht an der Soziologischen Fakultät Hamburg