„Liebe Geschichte“

Durch seine strenge formale Konzeption konfrontiert der Film nüchtern vorgetragene, sehr präzise Informationspassagen mit teils emotionalen und intimen Interviewsequenzen. Dabei entsteht eine produktive Spannung, und diese wird auch nach Außen hin – zum Publikum – weitergegeben.

„Ich hätte ihn gerne noch mehr gefragt“, sagt die jüngste, erst 14-jährige Protagonistin über ihren Großvater am Ende des Films. Sie hätte ihn als sehr „eigen“, aber doch als liebenswürdigen Menschen erfahren und ihre Vorstellung, dass Nationalsozialisten einfach nur unmenschlich gewesen wären, sei zerplatzt. Diese Ambivalenz, einen Menschen, der unvorstellbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschheit begangen hat oder (in welcher Form auch immer) daran beteiligt war, diese Person nach deren rationaler Verurteilung noch als Mitmenschen zu begreifen, hat schon Hannah Arendt in ihren Beobachtungen zum Eichmann-Prozess (1961) beschrieben und mit „Banalität des Bösen“ untertitelt. Die Ambivalenz, einen nahen Familienangehörigen, einen Eltern- oder Großelternteil, als VerbrecherIn, TäterIn oder ProfiteurIn zu erkennen, sich den daraus (möglicherweise) folgenden emotionalen Komplikationen zu stellen, eine eventuelle familiäre Prägung (auf-)zuspüren und bei sich zu verorten, diesen Bogen zwischen Suche und Befreiung versucht der Film Liebe Geschichte aufzuzeigen. Durch seine strenge formale Konzeption konfrontiert er nüchtern vorgetragene, sehr präzise Informationspassagen mit teils emotionalen und intimen Interviewsequenzen. Dabei entsteht eine produktive Spannung, und diese wird auch nach Außen hin – zum Publikum – weitergegeben, und dennoch bleiben wesentliche Aspekte familiärer Implikationen und besonders die außer-familiärer Sozialisationen ausgespart.

Die beiden Titel gebenden Substantive deuten bereits die Positionierung des Films an: „Liebe“ ist definitiv eine Absage an Rationalisierung, hat mit Emotion, Menschen und ihren Beziehungen zu tun. „Geschichte“ ist präsent – auch wenn vielleicht ZeitzeugenInnen nicht mehr leben und erzählen können –, sie bleibt Adressantin, für Fragen ans Selbst, für Fragen zur Gegenwart. Genauso wie die ursprüngliche englische Bezeichnung „Love History“ darf der Filmtitel auch als Aufforderung zur emotionalen Beschäftigung mit Geschichte verstanden werden. Damit manifestiert der Film ein generationssoziologisches Veto gegen diverse „Schlussstrich-Forderungen“ (wie z. B. gegen die im Jahre 2001 durch Rudolf Burgers „Plädoyer für das Vergessen“ ausgelöste Debatte).

Die Entscheidung der beiden Filmemacherinnen, ausschließlich mit weiblichen Interviewpartnerinnen zusammenzuarbeiten, ist schlüssig, konsequent und wohltuend. Sowohl die fehlenden Gedächtnisorte von und für Frauen – eine Protagonistin weist auf Kameradschaften, Stammtische und Kriegerdenkmäler hin – als auch die mediale Unterrepräsentiertheit von Frauen im öffentlichen Raum, ihrer Perspektiven und Erfahrungen, machen dieses Gender-Kriterium nachvollziehbar. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung von und mit Frauen und ihren Rollen als Täterinnen und „TäterInnenkinder“ seit den späten 1980er Jahren wird im Film als Inspiration ausdrücklich zitiert. Obwohl die letzten Arbeiten von Klub Zwei primär auf die Nachwirkungen der Shoah auf weibliche Personen, Kinder und Enkelkinder der Opferseite fokussierten (z. B. im Film Things, Places, Years, in dem emigrierte, jüdische Frauen und ihre Töchter über ihren Umgang mit Vertreibung und Holocaust erzählen), haben die beiden Künstlerinnen auch zum Komplex TäterInnenschaft und zu den Folgen jahrelang intensiv – und im Zusammenhang mit Liebe Geschichte auch in Teams – recherchiert.

Wiederbetätigung, Anklage, Weitergabe, Belastung, Darstellung, Ambivalenz
Diese – den 98-minütigen Film strukturierenden – Begriffe unterstützen und begleiten die Einteilung in Epochen, jeweils kommentiert durch historische Off- Informationen über die Skandale der österreichischen Nachkriegspolitik – wie z. B. über die mangelnde, inkonsequente Entnazifizierung, das Festhalten an der Opferthese, die (mehr als) dubiosen Freisprüche bei Kriegsverbrecherprozessen oder auch die Waldheim-Affäre. Für jeweils eine der beschriebenen Dekaden steht ein öffentlicher Großbau in Wien, jeweils ein spezifisch ausgewählter Ort für jede der Interviewpartnerinnen.

Die extrem ruhigen, auf Symmetrie aufbauenden Einstellungen dieser Architekturen (gefilmt von Sophie Maintigneux) verstärken einerseits die Sachlichkeit der informativen Sequenzen, vermitteln aber auch eine merkwürdige, unheimliche Ahnung von einem ordentlichen, „seligen“ und „unschuldigen“ Österreich, welches sich zwischen sozialpolitischen Angeboten (Strandbad Gänsehäufel), bemühter Internationalität (UNO-City) und selbstdefinierter Kulturnation (Museumsquartier) wiegt. Das österreichische „Wirtschaftswunder“ bzw. sein Mythos verschweigt die Tatsache, dass der wirtschaftliche Erfolg auch eine Folge der Ausbeutung von hunderttausenden ZwangsarbeiterInnen während des Nationalsozialismus war. Das für den ökonomischen, politischen und bürokratischen Wiederaufbau notwendige unternehmerische, juristische und akademische Personal setzte sich großteils aus ehemaligen NS-TäterInnen und ProfiteurInnen zusammen. Überlebende der Shoah hingegen hatten nahezu keine Chancen auf „ihren Wiederaufbau“, wurden nicht in die Gesellschaft reintegriert, blieben in der Emigration oder verließen endgültig das Land.

„Das Schweigen und das Nichtwissen ist die Volkskrankheit.“
Von den meisten Interviewpartnerinnen werden Verdrängung, mangelnde Ehrlichkeit und fehlende Dialogbereitschaft innerhalb ihrer Familie beklagt. Der Hauptort einer Entwicklung zum selbstständigen und autonom denkenden Indi-
viduum wird in den Gesprächen mit den Frauen fast ausschließlich im Familienumfeld festgemacht – eine Strategie, die nahe der Falle einer eindimensionalen Individualisierung oder Psychologisierung (von Faschismus) liegt.

Eine Aussage vom positiv empfundenen, weil rein faktischen Geschichtsunterricht lässt allerdings aufhorchen – gerade 2010, als sich eine revisionistisch anmutende Präsidentschaftskandidatin auch auf diesen bezieht. Erziehungsarbeit und Prägungen haben eben viele „Väter und Mütter“, und sehr viele davon befinden sich außerhalb der eigenen Familie. „Ich möchte aber nachdrücklich betonen, dass die Wiederkehr oder Nichtwiederkehr des Faschismus im entscheidenden keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist“, schreibt Theodor W. Adorno in seinem Essay „Erziehung nach Auschwitz“. Er weist hier sehr wohl auf die Notwendigkeit hin, die Wurzeln des Faschismus bei den Verfolgern zu suchen, auch auf eine notwendige „Wendung aufs Subjekt“, erläutert aber die Wichtigkeit des (außer-familiären) Kollektivs als Ort einer möglichen Bewusstwerdung zur „Selbstbestimmung“ und zum „Nicht-Mitmachen“.

Liebe Geschichte kombiniert politische Hard Facts der Mehrheitsgesellschaft und die offizielle Darstellung von Geschichte mit Elementen familiärer Spurensuche und Aufarbeitung. Die Grenzen dieser beiden Sphären sind allerdings konstruiert, bedingt doch der eine Bereich den anderen. Eine private Reflexion ohne eine gesellschaftliche Positionierung verschweigt beispielsweise die Weitergabe von Privilegien. Kategorien wie die soziale und wirtschaftliche Biographie einer Familie sollten für eine umfassende Analyse sorgfältig recherchiert und berücksichtigt werden. Genauso wie ein Kollektiv die für sein Selbstverständnis unangenehmen Tatsachen gerne ausblendet, passiert das eben auch in Familien. Führt gerade diese innerfamiliäre Verdrängung zu der gesamtgesellschaftlichen? Und wie lässt sich dieser Kreislauf durchbrechen? Können individuelle Reflexionsprozesse zu politisch sensibleren, aufgeklärteren und couragierteren Menschen und damit zu einer „gerechteren“ Gesellschaft verhelfen?

Sani-täter – Doppel-S – Katrin Himmler
Seine intensivsten Momente hat der Film in den hoch reflektierten – zwischen Erkenntnis und Weiterdenken changierenden – Interviewpassagen. Der bedachte Fragenkatalog der beiden Filmemacherinnen wird unmittelbar deutlich gemacht und durch Rückfragen und Rekonstruktionen des Aufarbeitungsprozesses an das Publikum weitergegeben. Eine Protagonistin erläutert den für sie schon in der Funktion ihres Vaters als Sanitäter enthaltenen Hinweis auf Täterschaft. Eine andere Interviewpartnerin berichtet über ihr Unbehagen, den eigenen Nachnamen, der ein doppeltes S beinhaltet, buchstabieren zu müssen – hier ebenso eine Andeutung auf die Position ihres Vaters während der NS-Zeit. Katrin Himmler, die 2005 das Buch „Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte“ herausgegeben hat, stellt sich (und uns) die unbequeme Frage: „Warum beschäftige ich mich damit erst so spät?“ Die Frage, ob sie – Großnichte von Heinrich Himmler – sich als Nachfahre von Tätern und Täterinnen sehe, beantwortet sie allerdings vorsichtig und differenziert, indem sie meint, sie sei eher Teil des „Kollektivs der Deutschen allgemein“, innerhalb dessen es schwierig sei, zwischen TäterInnen, MittäterInnen und MitläuferInnen zu unterscheiden. Auch von den meisten anderen Frauen wird diese Frage der Selbstdefinition eher zurückgewiesen oder relativiert, als eindeutig beantwortet. Dass dies neben all der Belastung, der Loyalitätsambivalenz und dem „Entsetzen“ wohl ein Privileg oder auch Folge einer autonomen (Selbst-)Erziehung ist, sei den Frauen unbenommen, der Umkehrschluss auf Angehörige der Opfer gilt jedoch nicht.

Ein interessantes Detail zur Produktionsgeschichte des Films soll hier nicht unerwähnt bleiben: Im Nachspann wird darüber informiert, dass die Arbeit zu drei Prozent mit den Tantiemen aus englischen Buchverkaufserlösen von „Mein Kampf“ finanziert wurde. Ein eingerichteter Fonds unterstützt seit Jahren Opferinitiativen oder Projekte, die sich mit der Erforschung von Faschismus beschäftigen. Erst dieses Jahr wurde von der Rückweisung dieser Gelder seitens des German Welfare Council, einer Hilfsgemeinschaft für Shoah-Überlebende, oder des Roten Kreuz berichtet. Diese Konstellation spiegelt ein Dilemma per se wider: Wo und wann ziehen wir die Grenzen zwischen dem Profitieren und der eigenen, selbst definierten Arbeit? Und wann wird bewusstes Reflektieren zu einer kontraproduktiven Beeinträchtigung, und was ist das eigentliche Ziel aller Aufarbeitungsprozesse? Vielleicht, so wie eine der Protagonistinnen sagt, „nicht mehr das Kind seiner Eltern“ zu sein. Oder vielleicht, um Antrieb und Kraft zu bekommen, sich den Ansätzen faschistischer Politik von heute entgegenzustellen, um aktive und bewusste Antifaschismusarbeit leisten zu können, um unangenehmen Fragen der eigenen Kinder und Enkelkinder vorzubeugen.

Eva Simmler ist Kulturarbeiterin, Filmmacherin, Deutschtrainerin und Notstandshilfeempfängerin, meist in Wien.