Seismographen der Erinnerung
Der Verein _erinnern.at_ (Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart) ist ein Vermittlungsprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Frauen für Lehrende an österreichischen Schulen. Werner Dreier, geb. 1956, studierte Geschichte und Germanistik, unterrichtete bis 2000 und leitet seither diese Projektstelle. Er gehört als österreichischer Delegierter der International Holocaust Remembrance Alliance an. Christof Thöny führte mit ihm das nachfolgende Gespräch.
Christof Thöny— Werner Dreier, das Thema dieser Ausgabe der Zeitschrift „WILLKOMMEN“ lautet Erinnerungskulturen. Diese spielen in eurem Netzwerk _erinnern.at_ eine maßgebliche Rolle. Welche Schwerpunkte sind dabei zu benennen?
Werner Dreier —Wir beschäftigen uns mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, also einerseits mit Ereignissen, die schon ein bis zwei Generationen in der Vergangenheit liegen, andererseits mit einer emotional und intellektuell hoch aufgeladenen Geschichte, die dadurch sehr präsent ist. Wir sprechen beim Nationalsozialismus von einem gesellschaftlichen Großprojekt, das den Anspruch auf Umgestaltung der sozialen, politischen, geographischen Ordnung, aber auch der intellektuellen Sphäre und der Werteordnung hatte. Diese grundstürzende Neuordnung wurde durch ungehemmte Massengewalt zunächst gegen Teile der eigenen Bevölkerung, dann der europäischen Völker umgesetzt. Obwohl dieses Großprojekt mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zusammenbrach, wirkt es bis heute nach. So bestehen Vorstellungen von der richtigen Weltordnung, Wertehaltungen fort. Die Vorstellung von einer ethnischen Homogenisierung der deutschen und österreichischen Gesellschaft zu einem gleichen und gleichberechtigten Staatsvolk der Deutschen und deutschsprachigen Österreicher hat Auswirkungen bis in unsere Gegenwart: Inwieweit knüpft der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, noch an Vorstellungen der Volksgemeinschaft an, und inwieweit kommt er mit der neuen ethnischen und sozialen Diversität zurecht?
Doch auch auf einer ganz persönlichen Ebene reicht diese Vergangenheit in unsere Gegenwart: Familien und Nachfahren der Verfolgten, Ermordeten und Erniedrigten leben in ihrem Schatten. Familien und Nachfahren der ehemals Überzeugten versuchen, zu begreifen, wer ihre Großväter damals waren und wie sie für sich die Bilder der geliebten Nächsten mit den Bildern der schrecklichen Anderen zusammen denken.
Christof Thöny— Welche Initiativen der vergangenen Jahre lagen bzw. liegen dir persönlich besonders am Herzen?
Werner Dreier — Mir ist ganz besonders wichtig, mit den noch lebenden Menschen, die damals zu Opfern gemacht wurden, heute anerkennend und respektvoll umzugehen.
Ihre Erfahrungen und ihre Geschichten bilden einen der Schwerpunkte unserer Arbeit. Wir ermöglichen Lehrpersonen beim jährlichen Seminar für Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Begegnung mit jenen Menschen, die noch bereit und fähig sind, in Schulen zu gehen. Und wir erarbeiten auf der Grundlage von Video-Interviews mit Zeitzeugen des Nationalsozialismus Unterrichtsmaterialien für Schulen.
Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Leid, Tod, Erniedrigung und Verlust sind herausfordernd. Wie konnte das aus unserer Gesellschaft heraus entstehen? Wer war dafür verantwortlich? Viele, die diese Spannung nicht aushalten, rutschen ab: Manche identifizieren sich mit den zu Opfern gemachten Menschen und vergessen dabei, ihre eigene Herkunft kritisch zu durchleuchten. Andere entlasten sich dadurch, indem sie die Opfer und ihre Nachkommen bezichtigen, selbst Schuld zu sein oder doch auch heute nicht anders zu handeln als die eigenen Vorfahren damals.
Wir gaben auf vielfältige Art und Weise die Geschichte von Jehudith Hübner (vormals Judith Winkler) wieder, die uns erzählte, wie sehr es sie noch heute bedrückt, ihre kleine Schwester Edith nicht gerettet zu haben. Nunmehr bringen wir ein neues Unterrichtsmaterial in die österreichischen Schulen, das die Frage stellt: „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler?“ Unsere Antwort steht im Untertitel: „Völkermord als gesellschaftliche Verantwortung.“
Christof Thöny— Ein wesentlicher Bestandteil eurer Arbeit liegt in der Organisation der Seminare für Lehrerinnen und Lehrer in Yad Vashem. Inwiefern wirken diese in den österreichischen „Bildungsalltag“ hinein?
Werner Dreier —Bislang hatten in 28 Seminaren in Israel etwa 600 Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, in diesem zweiwöchigen Seminar nicht nur über den Holocaust und die Folgen für die israelische und österreichische Gesellschaft zu lernen, sondern sich vor allem damit in Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte des jüdischen Staats auseinanderzusetzen. Dort wurden und werden schon viele Gewissheiten gestört, mit denen die österreichischen Lehrpersonen hin kamen: Das Selbstverständnis, zu den „Guten“ zu gehören, die angemessen und oft auch angestrengt im heutigen Österreich die Erinnerung an den Völkermord und seine Opfer hochhalten, wird hinterfragt durch jüdische WissenschafterInnen, die in den Österreichern weniger die Individuen als vielmehr die Vertreter dieser Gesellschaft sehen, die sich so schwer tut mit der Anerkennung und Auseinandersetzung.
Die LehrerInnen kommen nicht nur mit neuen Erfahrungen zurück, sondern auch mit konkreten Vorhaben für ihren Unterricht, die sie anschließend realisieren. Dieser Transfer in die Schulpraxis gelingt deutlich besser, wenn das Seminar Teil eines längeren Lehrgangs wie dem Lehrgang „Pädagogik an Gedächtnisorten“ (in Kooperation mit der PH Oberösterreich) ist.
Christof Thöny— Inwiefern prägt die aktuelle politische Lage in Israel die Abwicklung solcher Seminare?
Werner Dreier — „Die aktuelle politische Lage“ heißt für Israel, dass sie laufend eine andere ist. Wir hatten Seminare während der zweiten Intifada, als es Attentate auf Omnibusse gab, wir sagten ein Seminar wegen der Raketenangriffe auf Israel während des zweiten Irak-Kriegs ab. Wir waren letztes Jahr mit einem Seminar im Land, als es wieder Raketenangriffe im Grenzraum gab, sagten dann das zweite Seminar ab. Kurz: Aktuell sind die vielschichtigen Konflikte in der Region immer, nur halt jedes Mal wieder anders. Das Paradoxe daran ist, dass sich die meisten Seminar-TeilnehmerInnen auch zu den angespanntesten Zeiten im Land zumeist sicher fühlten und keine Absage des Seminars wollten. Wenn wir absagten, dann vor allem weil ein Lernen über Holocaust und Nationalsozialismus durch die Tagesaktualitäten und wegen der besorgten Angehörigen Zuhause uns stark beeinträchtigt schien.
Wir sind uns schon bewusst, dass wir die Realität im Land,
die Spannungen, die Fragen nach Gleichberechtigung der israelischen Araber und der Besatzung weiter Teile der Gebiete der Palästinenser nicht ausklammern können. Und gleichzeitig wissen
wir, dass wir in der kurzen Zeit neben den eigentlichen Seminarinhalten diese komplexen Fragen auch nicht angemessen behan-
deln können. Wir glauben, dass wir mit dem Seminarteil am Center
for Humanistic Education an der Gedenkstätte Lohamei Hagetaot einen guten Ort gefunden haben. Dieses Bildungsinstitut im so gemischten jüdisch-arabischen Norden Israels richtet sich dezidiert
an arabisch-palästinensische und jüdische Jugendliche und gibt uns einen Einblick in die pädagogische Arbeit. Und auch die zweitägige, geführte Rundreise durchs Land gibt einen Einblick.
Christof Thöny—
Wo siehst du noch Lücken in der Vermittlung des Themenkreises Nationalsozialismus und Holocaust an österreichischen Schulen?
Werner Dreier—Für mich stellt sich immer dringlicher die Frage nach dem Wozu: Wozu unterrichten wir über Nationalsozialismus und Holocaust? Dies als Unterfrage der Frage, wozu wir Geschichte unterrichten. Diese Frage stellt sich mir angesichts einer immer diverseren Gesellschaft, in der die Fliehkräfte zunehmen und die Zentrifugalkräfte stark gefordert sind. Müssen wir in einer gesellschaftlichen Situation, die sich der amerikanischen immer mehr annähert, in unseren Schulen auch vermehrt die Leistungen der amerikanischen Schulen bringen? Konkret heißt die Frage, ob wir immer mehr Sozialisationsund Erziehungsaufgaben in den Mittelpunkt auch der mittleren und höheren Schulen stellen müssen. Was wäre dann der angemessene Platz für Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust? Die Antwort aus Amerika wäre: ein zentraler. Und der Begriff dafür: Holocaust education.
Christof Thöny— Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt mittlerweile 70 Jahre zurück. Mit der fortschreitenden zeitlichen Distanz wird es zunehmend schwieriger, Zeitzeugen zum Holocaust zum Holocaust finden. Wie soll mit dieser Situation in Zukunft umgegangen werden?
Werner Dreier — Wir erleben in unseren ZeitzeugInnen-Seminaren ein Paradox: Noch immer kommen jedes Jahr neue Zeitzeuginnen hinzu, zumeist eben Frauen, die als Kinder oder Jugendliche die Verfolgungen überlebten. Die Zeugen aus dem Kreis der Täter hingegen sind wirklich nur noch kurze Zeit unter uns, waren sie doch damals zumindest junge Erwachsene. Doch diese Zeitzeugen gehen auch nicht in Schulen, sondern wenige stehen noch vor Gericht, und ihre Erinnerungen und Erzählungen kommen über die Gerichtsberichterstattung und über Dokumentarfilme in die Schulen.
_erinnern.at_ setzt ganz stark auf Videointerviews mit ZeitzeugInnen aus der Gruppe der Verfolgten, die wir für den Unterricht aufbereiten. Derzeit beforschen wir in einem internationalen Forschungsverbund, wie historisches Lernen mit Zeitzeugen-Videos tatsächlich funktioniert. Die ersten Ergebnisse sind ermutigend. Schülerinnen und Schüler sind interessiert und aktiv bei der Sache und empfinden das auch als guten Geschichtsunterricht.
Christof Thöny— Du beschäftigst dich mittlerweile seit mehr als drei Jahrzehnten mit zeithistorischen Themen. Welche Veränderungen hast du persönlich in der Erinnerungskultur Vorarlbergs bzw. Österreichs wahrgenommen?
Werner Dreier—Ein Bild vermag das zu verdeutlichen: In den achtziger Jahren führte ich eine Gruppe Geschichtsinteressierte durch das ehemalige jüdische Viertel in Hohenems. Als wir vor dem damals herabgekommenen Haus standen, das heute das jüdische Museum beherbergt, hielt ein Polizeiauto an, und die Beamten fragten, was wir hier täten. Vor ca. einem Jahr konnte man von derselben Stelle auf der Straße ein Transparent an einem der Nachbarhäuser sehen, das sich gegen den Verkehr in den Straßen wandte und auf dem stand: Hände weg von unserem jüdischen Viertel.
Für mich heißt das, dass diese Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Hohenems mittlerweile nicht mehr fremd, sondern angeeignet ist. Einerseits. Andererseits habe ich heute angesichts von rassistisch und antisemitisch motivierten Gewalttaten und den Schmierereien am jüdischen Friedhof, am jüdischen Museum,
auf Gedenksteinen und auch am islamischen Friedhof sowie auf der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit auch verstärkt das Gefühl, unsere Gesellschaft könnte durchaus in etwas Schlimmes kippen. Anders gesagt: In den achtziger und neunziger Jahren sah ich das mehr teleologisch: Aus der dunklen Vergangenheit leuchtet die Zukunft hervor. Heute ist die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust für mich vermehrt ein Lehrbeispiel, an dem sich studieren lässt, wie sich Normalitäten verändern, wie das, was gestern unmöglich erschien, plötzlich Alltag ist, wie Handlungen, die unvorstellbar schienen, nicht mehr hinterfragt werden ...
Christof Thöny— Inwiefern ist Erinnerung eine offizielle, staatliche Aufgabe, und inwiefern spielt die Zivilgesellschaft dabei eine Rolle?
Werner Dreier — Die „Erinnerung“ ist wohl immer etwas Individuelles, Persönliches, und „kollektive Erinnerung“ meint sowohl die Summe dieser persönlichen Erinnerungen wie auch den jeweiligen Erinnerungsdiskurs. Nur was innerhalb der Gesellschaft für wichtig erachtet wird, ist Teil dieses Diskurses. Das Einüben in diesen Diskurs, die Auseinandersetzung mit dieser als wichtig erachteten Vergangenheit gehört mit zum Sozialisationsprozess in unsere Gesellschaft. Durch reflektierte Aneignung dieser Geschichte werden wir zu Bürgern. In diesem Prozess ist neben der Zivilgesellschaft der Staat gefragt. Zu seinen Aufgaben gehört es, in den Schulen dafür die notwendigen Räume und Rahmenbedingungen zu schaffen.
Christof Thöny— Welche Beiträge leisten Kulturschaffende in diesem Zusammenhang bzw. können dieselben leisten?
Werner Dreier — Kulturschaffende sind können Seismographen sein oder Lautsprecher. Die Seismographen zeigen an, was sich tut, noch bevor die Mehrheit das spürt. Sie machen sichtbar und besprechbar. Die Lautsprecher verstärken einzelne Geräusche und übertönen damit alles andere.
Christof Thöny— Wie kann die Zukunftsfähigkeit der Erinnerung an den Holocaust gewährleistet werden?
Werner Dreier —In meine Augen kann die eine Generation die nächste nur in der jeweils eigensinnigen Aneignung der gemeinsamen Vergangenheit unterstützen. Wir leben und denken vor, und je nachdem, wie konsistent wir leben und denken, wie wahrhaft und wie ernsthaft bemüht, je nachdem werden wir einen Eindruck bei der nächsten Generation hinterlassen.
erinnern.at_ unterstützt im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums die Auseinandersetzung mit Holocaust und Nationalsozialismus im österreichischen Bildungswesen.
www.erinnern.at
www.neue-heimat-israel.at
www.romasintigenocide.eu