Über den Wirklichkeitsanspruch der Fotografie

Die Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit steht im Zentrum der künstlerischen Arbeiten von Anna Artaker. Neben ihrer Teilnahme an der Gruppenausstellung Das Potosí-Prinzip, die zur Zeit im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen ist, gastierte sie zuletzt im Frühjahr 2010 mit einer Einzelausstellung in der Wiener Secession, bei der Fotos der Totenmasken des sowjetischen Staatsbildhauers Sergej Merkurov zu sehen waren.

Die Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit steht im Zentrum der künstlerischen Arbeiten von Anna Artaker. Neben ihrer Teilnahme an der Gruppenausstellung Das Potosí-Prinzip, die zur Zeit im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen ist (siehe den Artikel von Alice Creischer in dieser Ausgabe), gastierte sie zuletzt im Frühjahr 2010 mit einer Einzelausstellung in der Wiener Secession, bei der Fotos der Totenmasken des sowjetischen Staatsbildhauers Sergej Merkurov zu sehen waren. Philipp Brugner traf sie zum Interview und sprach mit ihr über ihre Arbeiten UNBEKANNTE AVANTGARDE und 48 Köpfe aus dem Merkurov Museum, über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit sowie über das Verschwinden und die Rückkehr der Aura im Medium der Fotografie.

Kulturrisse: Welche Ideen verfolgst du mit deinen künstlerischen Arbeiten?

Anna Artaker: In meiner Arbeit geht es um die Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit oder allgemeiner: um die Frage, wie Wirklichkeit abgebildet wird. Wie wird versucht, Vergangenes und Gegenwärtiges als Bilder darstellbar zu machen? Das erklärt auch, warum ich öfters mit Fotografie oder Film gearbeitet habe. Der Fotografie spricht man traditionell ja so etwas wie ein privilegiertes Verhältnis zur Realität zu. Mit Photoshop kann man aber mittlerweile jedes Bild fälschen. Nicht zuletzt deswegen ist die Annahme, eine Fotografie würde die Wirklichkeit quasi direkt abbilden, eigentlich nicht mehr „state of the art“. Und trotzdem ist es so, dass die allermeisten Fotos noch immer als Abbildung dessen gesehen werden, was wirklich ist.

Kulturrisse: Man glaubt, dass Fotos nicht lügen?

Anna Artaker: Genau. Man glaubt daran, dass man ein Foto nur von etwas machen kann, was es auch tatsächlich gibt.

Kulturrisse: Arbeitest du deswegen immer mit Fotos?

Anna Artaker: Ich arbeite oft mit historischen Fotos, die ich für meine Zwecke heranziehe. Sonst oft nur mit Text. Es gibt einige Arbeiten von mir, die rein über Texte funktionieren. Oder eben über die Kombination von Texten mit Fotografien, wie das z. B. bei UNBEKANNTE AVANTGARDE der Fall ist.

Kulturrisse: Kannst du UNBEKANNTE AVANTGARDE kurz beschreiben?

Anna Artaker: Ich habe zehn Gruppenfotos ausgewählt, die alle Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts zeigen – z. B. Dada, Bauhaus, die Surrealisten oder die Situationistische Internationale. Diese Fotos haben mehrere Gemeinsamkeiten: Erstens zeigen sie Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts. Zweitens handelt es sich bei jedem Foto insofern um einen Teil der Kunstgeschichte, als jedes mehrfach publiziert wurde. Es sind also bekannte Fotos, die immer wieder in Büchern zu den jeweiligen Gruppen auftauchen. Und die dritte Gemeinsamkeit ist, dass sie alle genau eine Frau unter mehreren männlichen Kollegen zeigen. Mir ist aufgefallen, dass diese Konstellation mit einer Frau sehr oft vorkommt. Ich habe dann gezielt solche Gruppenfotos recherchiert. Das bekannteste Foto der Unterrichtenden am Bauhaus ist das, wo nur eine Frau dabei ist – gerade beim Bauhaus gäbe es aber noch andere Fotos. Zu diesen Gruppenfotos habe ich Legenden gemacht. Diese leisten aber nicht, was man sich von Legenden erwartet: Anstatt die Personen auf den Fotos zu identifizieren, listen sie die Namen von Künstlerinnen auf, die nicht auf den Fotos sind, aber Teil der jeweiligen Gruppe waren oder zumindest zum aktiven Umfeld dieser Gruppe gehörten. Die Legende verweist somit nicht auf das, was man sieht, sondern auf die auf den Fotos fehlenden Künstlerinnen.

Kulturrisse: Und jene einzelnen Frauen, die auf den Fotos zu sehen waren – hast du ihren Namen belassen?

Anna Artaker: Ich habe sie anonymisiert, es steht „unbekannt“ dabei. Die Anonymisierung ist ein weiterer Hinweis, worum es mir geht. Nur bei einem der zehn Fotos ist es so, dass die Frau wirklich unbekannt ist. Bei den anderen neun weiß man, wer sie ist. Die Rollen der fotografierten Frauen sind aber unterschiedlich: Zum Teil handelt es sich um Künstlerkolleginnen der abgebildeten Männer, zum Teil um deren Lebensgefährtinnen, die dann aber nur als Musen ihrer Männer in Erscheinung getreten sind. Die Namen der Frauen werden oft auch gekürzt: Auf dem Foto der Surrealisten z. B. sieht man Simone Breton-Collinet, die erste Frau von André Breton. Sie wird oft nur als „Mme Breton“ oder „femme de Breton“ ausgewiesen.

Kulturrisse: Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt: Man stellt die Frauen nicht in deren eigener Persönlichkeit dar, sondern reduziert sie stets auf bestimmte Rollen zu einem männlichen Künstler. Erreichst du nicht eine Art der „alternativen Geschichtsschreibung“, wenn du die „herstory“ statt der „history“ der Fotos zeigst?

Anna Artaker: Ja, aber für mich geht die Arbeit darüber hinaus. Mich beschäftigt eben auch, dass das Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit kein unmittelbares, sondern komplizierter ist. Ich denke, dies zeigt UNBEKANNTE AVANTGARDE auch. Wichtig ist auch die Publikationsgeschichte dieser Fotos. Ein Foto, das einmal publiziert wurde, wird auch weiter publiziert. Das hat nicht unbedingt mit böser Absicht zu tun, sondern passiert, weil meistens weder Zeit noch Geld da ist, um andere Publikationsprojekte zu machen. Ich habe selbst zwei Bücher gemacht und weiß, wie schwierig das ist. Ich war in Archiven, wo man oft erst nach Mühen Zutritt bekommt. Manchmal besteht das „Archiv“ dann aus vielen Schachteln, in denen irgendwelche Fotos ohne jegliche Ordnung enthalten sind. Sich hier durchzuarbeiten ist aufwendig, deshalb wird es oft nicht gemacht. Lieber publiziert man dasselbe Foto immer und immer wieder.
Kulturrisse: Worum ging es dir bei deiner Ausstellung im Frühjahr hier in Wien, bei der du Fotos der Totenmasken des sowjetischen Staatsbildhauers Sergej Merkurov in der Secession gezeigt hast?

Anna Artaker: Hier ging es mir mehr um Geschichte und die Darstellung durch Stereofotos (1). Durch die Einladung zur Biennale in Gyumri bin ich nach Armenien gekommen und habe von der Existenz und den Totenmasken von Sergej Merkurov erfahren. In Gyumri befindet sich auch das Merkurov-Museum. Dort werden 52 Totenmasken ausgestellt, die alle von Sergej Merkurov gemacht wurden. Er war so etwas wie der Staatsbildhauer der Sowjetunion. Hauptsächlich hat er monumentale Lenin- und Stalinstatuen gemacht, darüber hinaus aber auch den „Helden“ der Sowjetunion die Totenmasken abgenommen. Meine ursprüngliche Idee war nun, mit diesen Totenmasken eine Art Remake des Films 48 Köpfe aus dem Szondi-Test von Kurt Kren aus dem Jahr 1960 zu machen. Der Szondi-Test ist ein Persönlichkeitstest, der vom ungarischen Psychiater Leopold Szondi 1937 entwickelt wurde.

Kulturrisse: Worum geht es dabei?

Anna Artaker: Der Test funktioniert so, dass man sechs mal acht Porträtfotos vorgelegt bekommt und sagen muss, welche von diesen acht abgebildeten Personen man am sympathischsten findet, welche am wenigsten. Bei den sympathischen muss man wieder die allersympathischsten auswählen usw. Aufgrund dieser Auswahl – so behauptet zumindest Leopold Szondi – lässt sich ein Persönlichkeitsprofil der Person erstellen, die die Auswahl getroffen hat. Was man allerdings nicht weiß: Alle auf den Fotos abgebildeten Personen waren in irgendeiner Form in psychiatrischer Behandlung.

Kulturrisse: Wolltest du mit den Fotos der Totenmasken auch bestimmte Evokationen beim Betrachter auslösen?

Anna Artaker: Mir geht es um die Frage, was das menschliche Gesicht ausdrückt. Bei Szondi ist die Sache relativ klar: Er ist davon ausgegangen, dass man jene Personen, die einem von der Psyche her am ähnlichsten sind, auch am sympathischsten findet. Eine Person, die tendenziell hysterisch veranlagt ist, müsste so instinktiv die Hysteriker unter den abgebildeten Personen am sympathischsten finden. Szondi war also offenbar davon überzeugt, dass das menschliche Gesicht einen eindeutigen Ausdruck hat, der unmittelbar und instinktiv erkannt wird. Sein Glaube an eine spontane Identifizierung über den Gesichtsausdruck auf einem Foto war stark genug, um damit die Allgemeingültigkeit seines psychologischen Tests zu begründen. In dieser Frage, was das menschliche Gesicht ausdrückt, sehe ich auch die Parallele zu Merkurov. Er hat angeblich über 100 Totenmasken gemacht, wobei eben nur etwa die Hälfte in Gyumri zugänglich ist. Man kann sich fragen, was er mit diesem angelegten Archiv an Gesichtern bezweckt hat, bzw. was sich darin darstellt oder ausdrückt. Ausgehend von der Biografie Sergej Merkurovs nehme ich an, dass er damit etwas von der Geschichte der Sowjetunion festhalten wollte. Und irgendwie schafft er das auch: Auf gewisse Art ist diese Sammlung von Gesichtern ein Fragment der sowjetischen Historiographie. Ebenso fand ich die Parallelität zwischen Maske und Fotografie als zwei unterschiedliche, aber verwandte Reproduktions-Mittel interessant, sodass ich mich entschloss, neben dem Film eine weitere Arbeit zu machen. Das waren dann die Stereofotos.

Kulturrisse: Und durch die spezifische Form der Stereofotografie konntest du dann eine Vermischung dieser beiden Reproduktions-Mittel herstellen.

Anna Artaker: Ja. Es gibt ein sehr empfehlenswertes Buch von Georges Didi-Huberman: „Ähnlichkeit und Berührung“. Darin schreibt er über den Abdruck in der Kunstgeschichte. Diese Lektüre war auch Grund dafür, die Arbeit zu erweitern und die Stereofotos zu machen.

Kulturrisse: Walter Benjamin geht in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936 erstmals in gekürzter Form erschienen) davon aus, dass die ursprüngliche Aura eines Kunstwerks in dessen Reproduktion verloren geht. In der Fotografie, die durch eine Abbildung stets reproduziert, könne die Aura – so Benjamin – nur in der Abbildung eines menschlichen Gesichtes erhalten bleiben. Ist die Aura der Totenmasken in deinen Fotos noch da?

Anna Artaker: Der Aufsatz von Benjamin ist schon einige Jahrzehnte alt, und man kann ihn – glaube ich – nicht mehr eins zu eins verwenden. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Vintage-Fotografien heute wieder etwas sehr Auratisches bekommen, wogegen Benjamin die Fotografie für das Verschwinden der Aura verantwortlich macht. Diese auratische Aufladung bekommt man vor allem dann, wenn es kein Negativ, sondern nur noch den Abzug gibt. Das ist dann wie eine Spur des Realen, die nicht mehr erzeugt werden kann. Susan Sontag schreibt in ihrem Aufsatz Über Fotografie, dass es großartig wäre, hätte man heute ein gemaltes Porträt von Shakespeare, aber noch viel großartiger wäre es, hätte man ein Foto von ihm. Wie Shakespeare ausgesehen hat, weiß man immer noch nicht genau. Sämtliche Porträts, die ihn zeigen sollen, sind irgendwie umstritten. Natürlich gab es keine Fotografie zur damaligen Zeit, Sontag macht einfach auf den Unterschied zwischen Malerei und Fotografie aufmerksam. Tatsächlich geht es in Benjamins Aufsatz aber nicht nur um den Verlust der Aura durch die Reproduktion. Er fragt auch danach, wo die Aura im reproduzierbaren Bild erhalten bleiben kann. Wie bereits angesprochen, nimmt das menschliche Gesicht hier einen besonderen Stellenwert ein: Laut Benjamin „winkt im flüchtigen Ausdruck des Menschengesichts“ die Aura zum letzten Mal aus der Fotografie. Ob die Aura es nun bis in meine Stereokisten geschafft hat, weiß ich nicht. Aber ich versuche, diese Frage aufzuwerfen und würde auch hoffen: „Ja, sie hat es geschafft!“.

Fußnote
(1) Stereofotografie meint die Verwendung bestimmter Techniken aus der Stereoskopie, um Fotografien zu erstellen, die bei binokularer Betrachtung (mit beiden Augen gleichzeitig) eine räumliche Tiefenwirkung besitzen. Meistens werden dafür spezielle Stereokameras verwendet, die die beiden stereoskopischen Halbbilder gleichzeitig aufnehmen.

Anna Artaker hat in Wien und Paris Philosophie, Politikwissenschaft und Konzeptuelle Kunst studiert. Sie ist Künstlerin sowie Herausgeberin, Übersetzerin und Lektorin für Kunstbücher.

Philipp Brugner studiert Slawistik und Politikwissenschaften in Wien und ist als freier Autor für verschiedene Zeitungen und Blogs tätig.