„Zigeuner“ vs. „Bauer“. Die sozialen Dimensionen des modernen Antiziganismus

Unter dem Begriff des Antiziganismus wird ein soziales Phänomen zusammengefasst, das sich in vielerlei gesellschaftliche Dimensionen erstreckt. Diskriminierende und gewaltvolle Praxen in Geschichte und Gegenwart werden ebenso damit bezeichnet wie Stereotype und Bilder.

Die Ebenen des Antiziganismus

Unter dem Begriff des Antiziganismus wird ein soziales Phänomen zusammengefasst, das sich in vielerlei gesellschaftliche Dimensionen erstreckt. Diskriminierende und gewaltvolle Praxen in Geschichte und Gegenwart werden ebenso damit bezeichnet wie Stereotype und Bilder. Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen versuchen, fünf Ebenen des Antiziganismus auseinanderzuhalten: (1) die konkreten sozialen Interaktionen und Praktiken antiziganistischer Diskriminierung und Verfolgung; (2) die historischen und politischen Rahmenbedingungen; (3) die Stereotypen und Bilder; (4) die dahinter liegende Sinnstruktur; (5) die damit verknüpften sozialen Normen und Werte (vgl. End 2011).

Die Sinnstruktur des Antiziganismus stellt die vierte der vorgeschlagenen Analyseebenen dar und soll zusammen mit den auf der fünften Ebene liegenden sozialen Normen und Strukturen hier im Fokus stehen. Mit der Sinnstruktur des Antiziganismus ist eine abstrakte Bedeutungsebene bezeichnet, die über verschiedene Kontexte hinweg konstant ist und gewissermaßen das Vorverständnis über das „Zigeunerische“ darstellt. Die Sinnstruktur eines Ressentiments muss als ein Element der Kultur der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden, als ein Erklärungsmuster, das alle Mitglieder dieser Gesellschaft kennen.

Die Sinnstruktur setzt sich aus verschiedenen Sinngehalten zusammen, die miteinander in einer sinnhaften Verbindung stehen, tritt selbst jedoch nicht offen zutage, sondern manifestiert sich in verschiedensten Vorurteilsmustern und Stereotypen (vgl. Holz 2001: 133f). Ihre Kontinuität erhält sie durch die gesellschaftlichen Normen und Strukturen, die es für die einzelnen vergesellschafteten Individuen nahelegen, gesellschaftliche Verhältnisse in einer antiziganistisch geprägten Weise wahrzunehmen und soziale Normen an der Ausgrenzung von Menschen als „Zigeuner“ zu reproduzieren. Die Sinnstruktur ist dabei so aufgebaut, dass der Wir-Gruppe darin die Einhaltung bestimmter sozialer Normen zugeschrieben wird, während den „Zigeunern“ ein Bruch oder gar ein Angriff auf diese Normen unterstellt wird. Durch diese Projektionsleistung und die daran anschließende häufige Verfolgung kann die Norm abgesichert und gefestigt werden. Die Bezeichnung „Zigeuner“ – an einer Stelle auch „Sinto“ – in diesem Text muss dabei immer als Ergebnis einer solchen Projektionsleistung verstanden werden, als ein Konstrukt, zu dem die Realitäten von Menschen, die damit stigmatisiert werden, in keinem kausalen Zusammenhang stehen.

Vorgehen

Im Anschluss soll exemplarisch auf zwei zentrale Sinngehalte des Antiziganismus eingegangen werden. Mit ihnen ist weder der gesamte Vorrat an Vorurteilen und Stereotypen abgedeckt, noch die vollständige Sinnstruktur, sie stellen jedoch Kernelemente dar. Ich werde sie jeweils mit einem Zitat des „Zigeunerforschers“ Hermann Arnold zu belegen versuchen. Arnold steht wie kein anderer auch für die Kontinuitäten des nationalsozialistischen Antiziganismus in der Bundesrepublik Deutschland. Er publizierte auf der Basis der Schriften Robert Ritters und übernahm einen Teil des Nachlasses von Ritter und Eva Justin. Ritter war Leiter der nationalsozialistischen Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF), die u. a. 24.000 „Rassegutachten“ über alle als „Zigeuner“ Verdächtigten des damaligen Reichsgebietes erarbeitete, die wiederum als eine Grundlage für die späteren Deportationen dienten. Justin war seine engste Mitarbeiterin.

Arnold war in den 1950er Jahren ein wichtiger Berater verschiedener Ministerien, Verbände und der Kirchen, wann immer diese sich mit „Zigeunerfragen“ befassten. Gleichzeitig trat er als Experte in – oder besser entgegen – Wiedergutmachungsprozessen auf und engagierte sich in der entlastenden Darstellung der RHF und Ritters. Erst zum Ende der 1970er Jahre konnte durch vermehrten Druck der Bürgerrechtsbewegung erreicht werden, dass Arnolds „Expertentum“ infrage gestellt wurde (zu Arnold siehe Hohmann 1991 und Severin 2009: 84f.). Noch 2000 publizierte er ein Pamphlet, in dem er nachzuweisen versuchte, auf welche Weise der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die nationalsozialistischen Verbrechen zu seinen eigenen Zwecken ausnutze und eine Meinungsdiktatur errichte (vgl. Arnold 2000).

Verwurzelte Nationalität

Der Sinngehalt der Nicht-Identität muss als ein zentraler Sinngehalt der antiziganistischen Sinnstruktur gelten. Er lässt sich in folgenden zwei Sätzen zusammenfassen: „Zigeuner haben keine feste Identität, sie sind vielmehr ambivalent.“ „Deutsche hingegen haben eine feste und stabile Identität.“ „Deutsche“ deshalb, weil diese in der antiziganistischen Vorstellung in Deutschland den direkten Gegensatz zu „Zigeunern“ darstellen. Die häufigsten Vorurteile und Stereotype, in denen sich dieser Sinngehalt der Nicht-Identität gegenwärtig finden lässt, sind die Beschreibungen von „Zigeunern“ als „heimatlos“ oder „nomadisch“. So schrieb Arnold, als er 1958 verkündete, das „Zigeunergen“ „entdeckt“ zu haben: „Die im Verlauf der Untersuchung beobachtete Grundeigenschaft der Reisenden, welche als ,Unstetigkeit‘ bezeichnet wurde, ist dominant erblich. Sie bedingt das Verhalten des Individuums. Es sind nur die polaren Verhaltensweisen ,reisend‘ oder ,seßhaft‘ möglich. Wer das Merkmal trägt, ist verhaltensmäßig ein Zigeuner, wer es nicht hat, ist ein ,Bauer‘. Das ,Unstetigkeits‘-Merkmal ist als psychisches Erbradikal anzusehen“ (Arnold 1958: 95f).  Arnold setzt hier „reisend“, „Unstetigkeit“ und „Zigeuner“ direkt in eins, bestimmt sie also als wesensgleich. Diese Stereotype und Vorurteile zielen in ihrer Logik darauf ab, zu verdeutlichen, dass „Zigeuner“ keine Identität haben, nicht verwurzelt und fest gefügt sind wie „die Deutschen“ – im Falle Arnolds „die Bauern“ –, sondern unstet und ambivalent. Trotzdem werden „Zigeuner“ im Antiziganismus immer als Volk, Ethnie oder Nation verstanden, aber immer als ambivalent, nie als stabil.

Auf diese Art wird vermeintlichen „Zigeunern“ jene Eigenschaft, die für die Wir-Gruppe eine zentrale Rolle für die Identitätsbildung spielt, eine feste Nationalität, abgesprochen. Nationalität wird dabei nicht als Staatsangehörigkeit verstanden, sondern als die Kombination aus einer langen nationalen Tradition und Kultur, einem nationalen Raum und einem Nationalstaat.

Seinen sozialen Ursprung hatte dieser Sinngehalt in den religiösen und nationalen Identitäts- und Ordnungspolitiken in Europa seit dem 16. Jahrhundert. Mit den absolutistischen Monarchien begann sich eine neue Qualität des Territorialstaatsprinzips abzuzeichnen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich das Konzept der Nation zum zentralen identitätsstiftenden Merkmal entwickelt. Die Nation wird zu einer Ich-Identität auf sozialer Ebene.

Die Existenz einer nicht-identischen Nation stellt diese Norm der in nationale Entitäten eingeteilten Welt in Frage. Sie zieht damit auch die Identitätsbildung der Subjekte über die Nation in Zweifel. Gleichzeitig kann durch die Verfolgung derer, die als außerhalb der Ordnung stehend gelten, eine feste nationale Identität wieder hergestellt werden, weil die Bedrohung dann als eine Bedrohung durch diese „Fremden“ aufgefasst wird, die durch deren Bekämpfung und Vernichtung abgewendet werden kann, und nicht als eine, die aus dem Inneren des Konzepts der Nation selbst und letztlich aus dem widerspruchsfreien Identitätsprinzip erfolgt (siehe dazu auch Bauman 1992: 111f. und Holz 2001: 225ff.).

Arbeitsfreude

Ein zweiter zentraler Sinngehalt des Antiziganismus ist die Vorstellung eines „parasitären“, „schmarotzenden“ Lebensstils. Am kürzesten lässt sich dieser Sinngehalt in der häufigen Entgegensetzung der beiden Figuren „Zigeuner“ und „Bauer“ beschreiben (s.o.). In unzähligen antiziganistischen Texten findet sich diese Konstellation. Die Mehrheitsbevölkerung bekommt die Rolle der „Bauern“ zugeschrieben, die die Lebensmittel produzieren. Die „Zigeuner“ leben in der antiziganistischen Logik von den „Bauern“, also von den Lebensmitteln, die diese produziert haben. Mit dem Satz „Er [der ,Zigeuner‘, M.E.] lebt von Menschen […]“ (Arnold 1965: 207) hat Hermann Arnold diese Logik – ohne kritische Absicht – zusammengefasst. Sie findet sich in nahezu allen Vorurteilen darüber, wie „Zigeuner“ ihren Lebensunterhalt bestreiten: Betteln, Stehlen, Wahrsagen, Musizieren, Hausieren, Sozialbetrug – allen diesen Vorstellungen ist gemein, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die nicht als „richtige Arbeit“ angesehen werden und mit denen die Arbeitsprodukte der Wir-Gruppe angeeignet werden sollen. Der Sinngehalt ist immer der oben Beschriebene: des „parasitären“ und „schmarotzenden“ Lebensstils.

Als archaisch wird diese Verhaltensweise angesehen, weil den „Zigeunern“ unterstellt wird, dass sie die zivilisatorischen Prinzipien wie Eigentum, Gesetze und Lohnarbeit, die zur Verteilung von Gütern vorgesehen sind, nicht anerkennen und sich nicht an sie halten. Unterstellt wird folglich eine vorzivilisatorische – eben archaische – Ausformung des „Parasitären“. Dies ist der Kern der oben beschriebenen Vorurteile und Stereotype. Hierin grenzt sich der Antiziganismus deutlich vom Antisemitismus und von (neo-)kolonial geprägtem Rassismus ab.

Auch für diesen Sinngehalt findet sich der soziale Hintergrund in historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Frühen Neuzeit (vgl. Maciejewski 1996). In den deutschsprachigen Gebieten begann sich mit dem Entstehen des Kapitalismus eine neue soziale Norm der Arbeit durchzusetzen, begleitet von der Drohung der Einlieferung in Arbeitshäuser oder anderer Zwangsarbeit als Strafe für „Arbeitsscheu“ (vgl. auch Scholz 2009). Insbesondere für jene Ausprägung der Arbeitsethik, die Max Weber (1979) später als „protestantische Ethik“ beschrieben hat, wurde die Identifikation mit der eigenen Arbeit und der Stolz auf den eigenen Fleiß ein wichtiger Bestandteil. Die protestantisch geprägte Norm geht sogar so weit, den Arbeitenden den Genuss ihrer eigenen Arbeitsprodukte zu versagen und auch aus dieser Sparsamkeit psychischen Gewinn zu ziehen. (Auch hierbei wirft Arnold die Gegenthese, den genussvollen Konsum, den „Sinti“ vor: „Ein Sinto lebt in der Regel von der Hand in den Mund. Er besitzt niemals Ersparnisse und kann sie bei seiner Wirtschaftsweise auch kaum zurücklegen. Verbessert sich sein Einkommen, so feiert er Feste und läßt Gott einen guten Mann sein“ (Arnold 1965: 206).) Dieses in letzter Konsequenz masochistische Element spielt im psychischen und sozialnormativen Haushalt der deutschen Gesellschaft eine große Rolle. Auch in diesem Fall kann die Abweichung von dieser Norm sanktioniert werden, indem sie exemplarisch an einer Gruppe von „Fremden“ exekutiert wird. Damit wird gleichzeitig die Disziplinierung in der Wir-Gruppe verstärkt (vgl. hierzu Hund 1996: 30f.). Auch hier wurden die Abweichung von dieser Norm, also die „Arbeitsscheu“ und der lustgesteuerte Konsum, zu einem Teil des „Zigeunerbildes“.

Fazit

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in dem ursprünglich als Fazit geplanten letzten Abschnitt der sechsten These der Elemente des Antisemitismus neben anderen die Vorstellung des „Lohnes ohne Arbeit“ und der „Heimat ohne Grenzstein“ (Horkheimer/Adorno 1989: 208) zu den Vorstellungen gezählt, die sich die Individuen im antisemitischen Wahn zugleich ersehnen und versagen müssen. Sie weisen damit die moderne Form der Vergesellschaftung als Urgrund des Antisemitismus aus. In eben jener Weise müssen diese sozialen Verhältnisse jedoch auch als Urgrund des Antiziganismus begriffen werden. Antiziganismus und Antisemitismus sind dabei keine konkurrierenden Phänomene, sie verhalten sich vielmehr komplementär zueinander. Jedoch ist es notwendig, auch im Bereich der Kritik des Antiziganismus anzuerkennen, dass es sich nicht um ein einfaches Vorurteil oder eine Form der Xenophobie handelt, sondern um ein Ressentiment, dessen Entstehung historisch wie ideengeschichtlich eng mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft ist.

Literatur

Arnold, Hermann (1958): Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten. Untersuchungen zum Vagantenproblem an vagierenden Bevölkerungsgruppen vorwiegend der Pfalz. Stuttgart.

Arnold, Hermann (1965): Die Zigeuner. Herkunft und Leben der Stämme im deutschen Sprachgebiet. Olten.

Arnold, Hermann (2000): „Sinti und Roma“. Von der Zigeunertragödie zur Politkomödie. Landau.

Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg.

End, Markus (2011): „Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (22-23/2011), S. 15-21.

Hohmann, Joachim S. (1995): „Die Forschungen des ,Zigeunerexperten‘ Hermann Arnold“. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (3 /1995), S. 35-49.

Holz, Klaus (2001): Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg.

Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno (1989): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.

Hund, Wulf D. (1996): „Das Zigeuner-Gen. Rassistische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In: Ders. (Hg.): Zigeuner: Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg.

Maciejewski, Franz (1996): „Elemente des Antiziganismus“. In: Giere, Jacqueline (Hg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners: Zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt/M, S. 9-28.

Severin, Jan (2009): „,Zwischen ihnen und uns steht eine kaum zu überwindende Fremdheit.‘ Elemente des Rassismus in den ,Zigeuner‘-Bildern der deutschsprachigen Ethnologie“. In: End, Markus / Kathrin Herold/ Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster, S. 67-94.

Scholz, Roswitha (2009): „Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der ,Zigeuner‘ in der Arbeitsgesellschaft“. In: End, Markus / Kathrin Herold / Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster, S. 24-40.

Weber, Max (1979): Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Gütersloh.

Markus End promoviert am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin und ist Mitherausgeber des Sammelbandes „Antiziganistische Zustände“.