Am Land gibt es kein Publikum, es gibt nur „die Leit“
Nicht nur die Wahlergebnisse, sondern auch der kulturelle Alltag gestalten sich im ländlichen Raum anders als in den urbanen Zentren. Und gerade deshalb ist in der momentanen Situation wichtiger denn je, die Kulturarbeit am Land mit allen Kräften zu unterstützen. Gunilla Plank bringt diese Notwendigkeit durch eine kreative Publikumsanalyse auf den Punkt.

Und? Worn’t wui ane Leit do?1
Grundsätzlich: Am Land gibt es kein Publikum, es gibt nur „die Leit“. „Die Leit“ sind das, was in urbanen Räumen als „die Gesellschaft“ bezeichnet wird, nur unmittelbarer und direkter. „Die Leit“ sind die undefinierbare Menge, die sich eine Meinung bildet, die über dich redet, die Urteile fällt und gern auch ein Scherflein drauflegt, beim Verbreiten dessen, was wirklich passiert ist. Es sind jene, die still werden, wenn du dich ihnen näherst, die von der anderen Straßenseite ganz genau herüberschauen, wenn du vorbeigehst. „Die Leit“ sind jene, die dich am Samstagvormittag, wenn du mit dem Milchpackerl an der Kassa stehst, noch gezeichnet von der Veranstaltung am Vorabend, fragen: „Und? Worn’t wui ane Leit do?“
Die Frage ist komplex. Darin verbirgt sich nämlich der generelle Zweifel, ob das überhaupt jemanden interessiert, was du da machst. Zugleich steckt Neugier darin, WEN es wohl interessiert haben könnte. Wenn man dann den Anfänger*innenfehler macht und mit einem Ja antwortet, dann zerfallen „die Leit“ plötzlich in Individuen.
„Wer wor den oller?“2
Das ist die klassische Folgefrage. Damit werden all jene identifiziert, die sich aus dem Rudel herausgelöst haben, und Überlegungen zu deren Beweggründen, deine Veranstaltung zu besuchen, angestellt. Die Anonymität des Publikums, die in Ballungszentren üblich ist, existiert am Land nicht. „Die Leit“ sind vorsichtig und skeptisch, wenn jemand etwas Neues anfängt.
Einerseits gibt es die unverfänglichen, meist traditionellen oder zumindest konservativ angelegten Veranstaltungen, zu denen man hingehen kann oder sogar soll, weil es alle tun: Zeltfeste, Frühjahrskonzerte, Bauerntheater, Faschingsfeste. Dabei macht man sich nicht verdächtig.
Andererseits gibt es feministische Konzerte, Lesungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit, Vorträge über existenzielle Krisen. Das ist das etwas ganz anderes.
Filmvorführungen zum Thema „Häusliche Gewalt“:
„Warum war sie wohl dort?“; „Mit wem ist die nochmal verheiratet?“; „Traust dem sowas zu?“
Daher kommen oft nur wenige Zuseher*innen, die Veranstaltung säuft ab. Dann steht man auf der Bühne, versucht, mit professionellen Worten und guter Laune den in letzter Minute herangeschafften Anwesenden – Mutter, Tante und beste Freundin, dicht aneinandergedrängt in der zweiten Reihe – zu erklären, wie toll und wichtig es ist, dass sie heute da sind.
Übel ist sowas, man stirbt allerdings nicht daran, auch wenn es sich in dem Moment so anfühlt. Man wächst und man lernt, wie viel man aushält, wie lange man braucht, um sich wieder aufzurichten, wie „die Leit“ funktionieren und was wirklich wichtig ist. Am Land.
Wesentlich ist zum Beispiel das direkte und unmittelbare Kommunizieren der Veranstaltungen. Man muss benennen, was passieren wird, wann, warum und wie alles ablaufen wird. Keine geschraubten Sätze, keine Worthülsen und Floskeln, sondern klar sagen, was Sache ist.
„Die Leit“ sind nämlich nicht deppert, sie sind vorsichtig, vor allem die Frauen. Sie spüren, wenn man es ernst meint. Dafür braucht es Zeit, Beziehungsarbeit und Vertrauensaufbau. Strukturförderung ist das Zauberwort, denn diese kulturelle Care-Arbeit finanziert sich nicht von selbst und muss langfristig gedacht werden. Verbindungen gehören aufgebaut, gefestigt und erweitert, bis zu dem Punkt, an dem man nicht mehr „für die Leit“, sondern „mit die Leit“ etwas macht. Dann gedeihen die Projekte und man steht im Zentrum, während sich die Dinge rundherum neu ordnen, weil sich die Menschen persönlich angesprochen fühlen und weil alle, die da sind, auch mit ganzem Herzen dabei sind.
Und wenn du dann am Samstagvormittag mit deinem Milchpackerl an der Kassa stehst, noch gezeichnet von der Veranstaltung am Vorabend, dann traut sich plötzlich niemand mehr nachzufragen, aus Angst, du könntest die Gegenfrage stellen:
„Und? Wo wors’t du eigentlich gestern?“3
1 Worn’t wui ane Leit do? (Waren tatsächlich Leute dort?) Übersetzung: Ich gehe davon aus, dass deine Aktivitäten nicht das geringste Interesse bei der ländlichen Bevölkerung hervorrufen und würde mir diese Annahme von dir gerne bestätigen lassen.
2 Wer wor den oller? (Wer war denn dort?) Übersetzung: Da tatsächlich jemand dort gewesen zu sein scheint, hätte ich gerne detaillierte Informationen zu den gestern anwesenden Personen, um eine exakte soziale und gesellschaftliche Positionierung deiner Person durchführen zu können.
3 Und? Wo wors’t du eigentlich gestern? Übersetzung: Nachdem du mir jahrelang mit deinen unangenehmen Fragen nicht nur emotional zugesetzt, sondern mich auch permanent als Außenseiterin abgestempelt hast, möchte ich die Gelegenheit nutzen, dir mitzuteilen, dass gestern etwas Großartiges passiert ist. Ohne dich!
Der Artikel ist zum ersten Mal in der Publikation Fokus Publikum erschienen. Wir dürfen ihn mit freundlicher Erlaubnis des BMKÖS hier erneut veröffentlichen.
Gunilla Plank wurde am Land in Oberwölz (Steiermark) sozialisiert. Sie ist Obfrau des Vereins murauerInnen, Projektbegleiterin von Iron Women, Mitglied des Women*s Action Forum und derzeit als selbstständige Kulturaktivistin mit Schwerpunkt Regionalentwicklung tätig.
Die murauerInnen sind ein Frauennetzwerk, das mit viel Freude, Humor und gegenseitiger Unterstützung den angewandten Feminismus am Land praktiziert. Konsequentes Rumnerven in patriarchalen Strukturen inklusive. Webseite hier.
Und was hat das alles mit #kulturlandretten zu tun? Die murauerInnen geben dazu folgende Antwort:
𝗚𝗲𝗵𝘁'𝘀 𝗱𝗲𝗿 𝗞𝘂𝗹𝘁𝘂𝗿 𝗴𝘂𝘁, 𝗴𝗲𝗵𝘁’𝘀 𝘂𝗻𝘀 𝗮𝗹𝗹𝗲𝗻 𝗴𝘂𝘁
🟢 2017 fand die Bäuerinnen-Stube statt, eine Veranstaltung des Kulturfestivals STUBENrein, gefördert vom Land Steiermark.
🟣 Es war die Initialzündung für murauerInnen, die als vom Land gefördertes Projekt der Holzwelt Murau ihre Arbeit aufnahmen.
🟢 Inzwischen sind aus unserem Netzwerk schon wieder viele weitere konstruktive Kooperationen hervorgegangen.
🟣 All das wäre ohne die Förderungen für stubenREIN und murauerInnen nicht so leicht oder gar nicht entstanden.